Bei den Teilstaaten wurde geschlampt

Reiten für Europa: Heute wird im thüringischen Sondershausen der 100. Geburtstag des allgewaltigen Kyffhäuserdenkmals gefeiert. Das einstmals urgermanische Monument soll jetzt als Symbol der europäischen Einheit dienen  ■ Von André Meier

Die Welt ist schlecht. Selbst in Sondershausen. Ändern kann daran auch Dirk Pille nichts, aber er versucht es wenigstens. An der Rezeption seines Hotels liegen kleine Wegweiser, die helfen sollen, bei der Fußball-Europameisterschaft die Übersicht zu behalten. Sie kommen von der CDU, und das ist gut so. Denn deren Vorsitzender versteht was vom Fußball, weil, wie er im Begleittext erklärt, es mit diesem Spiel wie mit dem Regieren ist: Der Erfolg kommt nur, wenn alle gemeinsam und in die gleiche Richtung treten. Noch aber ist Deutschland nicht im Finale und der Chef des Thüringer Hofs unzufrieden. Immer wieder versuchen Gäste ihn auszutricksen, weshalb der Hotelier zu Präventivmaßnahmen greifen muß. Pay-Kanäle, auf denen man durch schnelles Hin- und Herzappen kostenfrei surfen kann, gibt es in seinem Haus nicht. Dafür aber kleine Kompaktfernseher mit eingebautem Videorecorder. Die Bänder darf sich der Gast an der Rezeption abholen. Nur trifft er dort auf eine so freundlich-familiäre Atmosphäre, daß er es wohl kaum wagen würde, sich im Bedarfsfall eine der mit Herzchen dekorierten Pornokassetten aushändigen zu lassen, die am Empfang im drehbaren Videoständern unter der Rubrik Erotik einsortiert sind.

Auch am Schnellimbiß auf dem Boulevard sind die Zeiten hart. Vielleicht, weil hier kein Holzkohlegrill für die landestypischen Rostbratwürste steht. Dafür gibt es Schweinebauch und Gyros und einen einsamen, angesoffenen Gast. Die Sonne scheint, und der Schweiß der blondgelockten Turbo-Gastronomin fließt. Dafür steht der Gyros-Spieß still, und sollte doch noch jemand die Griechenspezialität ordern, wird sie kurzerhand kalt abgeschabt und in der Schweinebauchtunke fritiert. So brutzelt in Sondershausen zusammen, was nach Ansicht des zuständigen Landrats ohnehin zusammengehört: Europa.

Peter Hengstermanns Büro ist nur ein paar Meter von der heißen Vielvölkerpfanne entfernt und nicht minder bunt bestückt. Eine wulstige Sitzgarnitur aus der Zeit, als man Franziska van Almsick zeugte, und eine weiß-gelbliche PVC-Deckenabhängung halten die Erinnerung an vier Jahrzehnte sozialistischer Gewaltherrschaft wach. Wandschrank und Schreibtisch sind noch älteren Datums. Der Versuch, den warmen Holzton dieser barocken Wuchtmöbel durch einen tiefbraunen Anstrich der Zimmerwände nachklingen zu lassen, ist allerdings gescheitert. Was den Vorzug hat, daß sich nun das Porträt unseres Bundespräsidenten überdeutlich von der Rauhfasertapete abhebt.

Doch zurück zu Peter Hengstermann, der noch immer am Schreibtisch sitzt und noch immer regiert. Der vollbärtige Kommunalpolitiker ist CDU-Mitglied, Fliegenträger und seit kurzem rechtmäßiger Eigentümer des Kaiser-Wilhelm- Denkmals auf dem Kyffhäuser. Und auch das ist gut so. Denn was die Rostbratwurst für das Land Thüringen im allgemeinen, ist das Kyffhäuserdenkmal für den von Hengstermann verwalteten Kreis im besonderen: eine Wunderwaffe im Kampf um eine kerngesunde, wirtschaftsfördernde, landsmannschaftliche Identität. Der Kyffhäuser ist ein bescheidenes nordthüringisches Bergmassiv, auf dessen Rücken im 11. Jahrhundert eine Reichsburg errichtet wurde, die in der Folgezeit zuweilen den Kaisern Unterschlupf bot. Seine besondere Bedeutung verdankt der Kyffhäuser dem Umstand, daß er im späten Mittelalter Einlaß in die deutsche Sagenwelt fand. Im Inneren des Gebirges soll sich der Stauferkaiser Friedrich I., wegen seines roten Bartes Kaiser Barbarossa genannt, zur Ruhe gelegt haben. Doch nicht für die Ewigkeit, sondern nur bis zu dem Augenblick, an dem das nach seinem Ableben zerbröselte Reich in alter Herrlichkeit wiederaufersteht. Als die deutschen Fürsten dem Preußenkönig Wilhelm I. 1871 in Versailles die Kaiserwürde antrugen, war das im Barbarossa-Mythos eingeschriebene Verlangen nach einem einigen und mächtigen Deutschland fürs erste gestillt. Der Hohenzoller wurde als „herrlichste Erfüllung der Kaisersage“ gefeiert. Der Topos des im Kyffhäuser ausharrenden Barbarossa wurde um die Figur des siegreichen Einigungskaisers Wilhelm I. erweitert. Als „Barbablanca“ und „Barbarossa“, als der Weiß- und der Rotbart, fand das ideologisch geschickt gebündelte Monarchen- Duo Eingang in die Ikonographie des neuen Reichs.

So war es auch nur folgerichtig, daß die deutschen Kriegervereine, als sie nach dem Tod ihres obersten Heerführers nach einem geeigneten Platz für ein Erinnerungsmal Ausschau hielten, auf den Kyffhäuser verfielen. Am 22. März 1888, zwei Wochen nach dem Hinscheiden Wilhelm I., verbreitete das Zentralorgan des Deutschen Kriegerbundes, die „Parole“, einen an alle Vereinskameraden gerichteten Aufruf, dem Verstorbenen ein durch Mitgliederspenden zu finanzierendes Denkmal auf dem Kyffhäuser zu errichten. Aus dem noch im gleichen Jahr ausgeschriebenen Wettbewerb ging der Berliner Architekt Bruno Schmitz als Sieger hervor. Allerdings akzeptierte der Denkmalausschuß nur dessen architektonisches Gesamtkonzept. Für das figürliche Programm des vom „Volke in Waffen“ gestifteten Monuments, das neben dem verstorbenen Kaiser „in soldatischer Auffassung“ auch Barbarossa präsentieren sollte, engagierte man die Berliner Bildhauer Emil Hundrieser und Nikolaus Geiger.

Am 18. Juni 1896 wurde das auf Resten der staufischen Reichsburg Kyffhausen errichtete Kaisermonument in Anwesenheit Wilhelm II. eingeweiht. 1.452.241,37 Mark kostete die Anlage am Ende die deutschen Krieger und, glaubt man der Legende, mindestens einem Steinmetzgesellen das Leben. Der hatte nämlich bei der am Denkmalskopf eingemeißelten Liste aller deutschen Teilstaaten geschlampt und ausgerechnet beim Wort „Preußen“ einen Buchstaben unterschlagen. „Preußn“ – ein Fehler, der erst nach Abbau des Gerüsts auffiel und auch nicht mehr zu korrigieren war. Der Geselle soll die Schmach nicht ertragen und sich deshalb vom Berg hinabgestürzt haben.

Die 96 Meter breite, 131 Meter tiefe und 81 Meter hohe Denkmalsanlage ist als mehrstufige Aussichtsplattform konzipiert. Unten, im „Barbarossa-Hof“, sitzt der von Geiger überlebensgroß in Sandstein geschlagene Stauferkaiser. Die eine Hand am Knauf seines Schwertes, die andere verkrallt im langen Bart. Schmitz hat ihn in eine pseudoromanische Nische gesetzt. Vor seinen Füßen öffnet sich der Berg. Die Idee, den alten Kaiser aus unbearbeitetem Felsgestein aufwachsen zu lassen, ist einer der wenigen originellen Einfälle dieser historisierenden Anlage. Dabei war den Bauherren nur das Geld ausgegangen, und Schmitz mußte darauf verzichten, den Boden einzuebnen.

Über Barbarossa erhebt sich der auf eine weiträumige Terrasse gesetzte, von innen begehbare und von einer mächtigen Krone gedeckelte Denkmalsturm. An seiner Ostseite steht Hundriesers pyramidale Figurengruppe. In ihrer Mitte das neun Meter hohe, in Kupfer getriebene Reiterstandbild Wilhelms I. Der uniformierte Herrscher wird zu beiden Seiten von allegorischen Figuren flankiert. Zu seiner Rechten hockt die „Geschichte“. Eine Matrone im Löwenfell, die Wilhelms Kriegserfolge in die Annalen meißelt. Ihr gegenüber lümmelt ein urgermanischer Finsterling mit gezücktem Schwert – die „Wehrkraft“. Die Botschaft ist klar: Die Reichseinigung als ein „Werk des Schwertes“, direkte Folge des Sieges über Frankreich.

Für die deutschen Kriegervereine hatte die Errichtung des Kyffhäuserdenkmals außer zur reichsweiten Imagepflege noch eine weitere Funktion: Es war zugleich das erste Gemeinschaftswerk der bis dahin unabhängig voneinander agierenden Landesverbände und bereitete den Weg zu ihrem im Jahr 1900 vollzogenen Zusammenschluß zum Deutschen Reichskriegerbund „Kyffhäuser“.

Die Organisation war konservativ, gab sich aber überparteilich. 1932 appellierte ihr Vorsitzender von Horn zur Reichspräsidentenwahl an seine Kameraden, „in reinem Kyffhäusergeist zu handeln“ und für den Weltkriegshelden Hindenburg zu votieren. Indirekt trug damit auch der Kriegerbund zur Machtübernahme der Nazis bei. Die bedankten sich dafür 1943 mit der Auflösung des Bundes.

Sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Kyffhäuserbund im Westen Deutschlands wieder gegründet. An ehemaligen Kriegern mangelte es ebensowenig wie an Hinterbliebenen und Versehrten. Ihre Betreuung bildet bis heute einen Schwerpunkt der Arbeit des jetzt vom hessischen CDU-Landtagsabgeordneten Dieter Fischer geführten Vereins. Neben diesen karitativen Aufgaben kümmert sich der Kyffhäuserbund um die Pflege „soldatischer Tradition“: von der Förderung des Jugendschießsports über die Soldatenbetreuung und aktive Reservistenarbeit bis hin zur Unterstützung der Deutschen Kriegsgräberfürsorge.

Nach dem Fall der Mauer beantragte der Kyffhäuserbund die Rückübertragung seines zwischenzeitlich volkseigenen Vereinssymbols. Ende April wurde der Streit um das Denkmal zugunsten des Kreises Sondershausen entschieden, und so oblag es Landrat Hengstermann, die offizielle 100-Jahr-Feier zu organisieren.

350.000 zahlende BesucherInnen klettern jährlich auf den Kyffhäuser. Der Kreis hat ein Barbarossa-Bier, ein Barbarossa-Autohaus und eine Arbeitslosenquote von 21 Prozent. „Negativschlagzeilen“, so Hengstermann, „kann man hier nicht gebrauchen.“ Und aus Sorge, rechtsextreme Gruppierungen könnten Geburtstag und Denkmal für ihre Zwecke nutzen, verordnete er dem Kyffhäuser gleich ein mehrtägiges und betont unteutonisches Feierprogramm. Motto: ein Denkmal in Europa.

Der Landrat ist Pragmatiker: „Vor hundert Jahren war die deutsche Einheit Gebot der Stunde, jetzt ist es die Einigung Europas.“ Weshalb, so doziert Hengstermann kühn weiter, „auch so ein altes Denkmal gut und gern dazu dienen kann, auf die Probleme der heutigen Zeit aufmerksam zu machen.“ Wie, weiß er zwar auch nicht so genau, aber dafür hat er Alfred Grosser und Rita Süssmuth. Die beiden werden die Festivitäten auf den Kyffhäuser heute mit ihren Ansprachen eröffnen. Wobei es dem Pariser Publizisten obliegt, dem nach Osten reitenden Franzosenbezwinger Wilhelm I. die neue Einigungsbotschaft aus dem Waffenrock zu ziehen.