Teenies mit Entzugssymptomen

■ Mats Ek choreographiert Dornröschen als Drogendrama am Hamburger Ballett

Fast alle Choreographen haben den Ehrgeiz, eines der großen klassischen Ballette auf ihre Art zu deuten. Mats Ek, 51jähriger Schwede und Sohn der bekannten Choreographin Birgit Cullberg, bildet da keine Ausnahme. Wohl aber treibt seine moderne Version von „Dornröschen“, die er für das Hamburger Ballett ausgewählt hat, das Geschehen auf die Spitze.

Bereits 1982 inszenierte Ek eine revolutionäre „Giselle“, in der die Hauptperson kein naives Bauernmädchen war, sondern eine selbstbewußte junge Frau, die mit ihren freien Liebes- und Lebensvorstellungen an der Enge ihrer Umgebung scheitert und im Irrenhaus landet. Bei „Schwanensee“ (1987) kam es Ek weniger auf die verzauberte Prinzessin an als auf den Werdegang des Prinzen, der vom verzogenen Jüngelchen zum Mann reift. Für „Dornröschen“ behält der Choreograph die Struktur der Handlung bei: Ein Kind wird geboren, wächst heran, das junge Mädchen sticht sich und fällt in tiefen, langen Schlaf, aus dem sie ein Prinz erweckt und heiratet – Happy-End. Ek verlagert das Geschehen jedoch in die fünfziger Jahre. Es gibt weder Schloß noch Gefolge, weder König noch Königin und auch keine Feen. Die Personen sind ganz gewöhnliche Sterbliche im Wirtschaftswunder-Nachkriegsdeutschland. Der Stich und der Schlaf Dornröschens seien für ihn die magischen Momente dieses Märchens, sagt Ek. Seinen Zugang jedoch habe er vor einigen Jahren in Zürich gefunden, als er jeden Morgen auf dem Weg ins Theater an den Drogensüchtigen vorbeigekommen sei. Und so sticht sich Prinzessin Aurora bei ihm nicht an einer Spindel, sondern an der Injektionsnadel mit Heroin, zu der sie aus Liebe greift. Ihr Schlaf ist die Agonie des Rausches, die Realitätsferne, das Highsein.

Schon in der Vorgeschichte finden sich bei Ek eine Reihe von Highlights: Eine Frau erwartet ihren Galan, und als er endlich kommt, beginnt ein zärtliches Turteln und Balzen (hinreißend komisch und lasziv: Joelle Boulogne und Lloyd Riggins), das in Hochzeit und Geburt eines Kindes (symbolisiert durch ein großes, weißes Ei) endet. Die beiden wickeln sich umeinander, umgarnen sich im wahrsten Sinne des Wortes, und die Frau ist dabei keineswegs immer die Passive. Sie faßt dem Liebsten ganz gern in den Schritt, lockt ihn, indem sie ihm sacht über die Schenkel streicht.

Kurz darauf wird das noch ungeborene Dornröschen mit der „bösen“ Fee, Carabosse, konfrontiert. Bei Ek ist sie keine verhärmte Märchen-Frau, sondern ein selbstbewußter, dunkelhäutiger junger Arzt, der der Gebärenden zur Erleichterung ihrer Wehenschmerzen eine Spritze verpaßt.

Als Aurora das erste Mal auftritt, ist sie bereits ein aufsässiger und gelangweilter Teenager. Angeödet vom elterlichen Picknick, schnappt sie sich das Auto und haut ab. Bei der Spritztour begegnet sie erstmals dem anderen Geschlecht: einem Punk, einem Rocker und einem Beau. Sie ist hingerissen, daß sie ihr den Hof machen, es gefällt ihr, zu kokettieren und sich umschmeicheln zu lassen. Aber sie erhört erst Carabosse, der – wiederum dunkelhäutig als junger Mann – aus dem Orchestergraben auftaucht und alle anderen an männlicher Präsenz aussticht. Ihm zuliebe, der erkennbar an der Nadel hängt, setzt sich auch Aurora den ersten Schuß. Fortan taumeln sie gemeinsam durchs Leben.

Im zweiten Teil setzt ein aus dem Publikum stürmender „Prinz“ dem Treiben ein Ende, empört sich über die Gleichgültigkeit der Menschen angesichts der Süchtigen. „Das kann doch nicht wahr sein, das kann man doch nicht mit ansehen“, schreit er immer wieder, und unter wüsten Beschimpfungen („Bananenfresser“, „Ausländer raus“) erschießt er Carabosse.

Dornröschen, nunmehr allein und ohne Stoff, heiratet ihn nach anfänglichem Zögern. Diese Stelle ist die heikelste in Eks Version – so trivial, so simpel, so oberflächlich kann er das Ganze doch nicht wenden. Tut er auch nicht: Dornröschen kommt mit dickem Bauch aus der Kirche – und das Kind, das sie dann unter Entzugssymptomen zur Welt bringt, ist nicht vom frisch Angetrauten, sondern – weil dunkelhäutig (ein schwarzes Ei!) – von Carabosse. Der Gatte setzt sich erst mal ab, kommt dann aber wieder, und zögernd, vorsichtig, unendlich zärtlich nimmt er das „Kind“ in die Arme und rutscht an der Wand herunter in die Hocke. Aurora, immer noch im Entzug zitternd, faßt hilfesuchend nach seinem Fuß. Dieser Schluß – völlig überraschend und in seiner Schlichtheit hochgradig anrührend und intensiv – ist Happy-End und Neuanfang zugleich.

Als Musik verwendet Ek eine zweistündige Version von Tschaikowskys „Dornröschen“ von Richard Bonynge. Daß sie vom Band kommt, stört wenig – zumal Ek sich das zunutze macht und mit der Elektronik spielt. Bei den Soli der Feen etwa läßt er das Band mal langsamer, mal schneller laufen, so daß die Musik seltsam eiert. Oder sie quäkt aus einem Kofferradio, das die bikinibedreßte „Silberfee“ mitgebracht hat.

Die Zusammenarbeit mit Mats Ek, der einen total unkonventionellen, heiteren und humorvollen Stil fordert, muß alle TänzerInnen des Hamburger Balletts beflügelt haben. Gemischte Gefühle wahrscheinlich für den Haus-Choreographen und Direktor der Kompanie, John Neumeier, zumal er selbst vor einigen Jahren ein sehr viel klassischeres „Dornröschen“ auf die Bühne gebracht hat (in der kommenden Spielzeit präsentiert das Ballett beide Versionen en suite, so daß sie gut verglichen werden können). Erstmals nach 23 Jahren hat er „seine“ Tänzerinnen für ein abendfüllendes Ballett einem anderen überlassen. Nach diesem Erfolg bleibt zu wünschen, daß er noch oft den Mut dazu aufbringt. Annette Bopp

„Dornröschen“ in der Choreographie von Mats Ek. Musik: Peter Tschaikowsky. Mit: Bettina Beckmann, Gamal Gouda, u.a. Heute am Hamburger Ballett