■ Heute beginnt der EU-Gipfel in Florenz. Die BSE-Krise hat gezeigt: Die Briten wollen kein politisch einiges Europa
: Vernunftehe ohne Gütertrennung

Seit fast einem Vierteljahrhundert machen sich die EU und Großbritannien das Leben schwer. Wir sollten der britischen Regierung dankbar sein, daß sie den Streit um BSE auf die Spitze getrieben hat. Das kann zur Klärung von ein paar grundlegenden Fragen beitragen. Seit Wochen blockiert die Major-Regierung fast alle EU-Beschlüsse, um eine Lockerung des Exportverbotes für britisches Rindfleisch zu erzwingen. Der EU-Gipfel in Florenz wird nun ganz im Zeichen verrückter Rinder stehen. Das ist nicht weiter schlimm. Auch ohne Rinderwahnsinn hätte sich die britische Regierung gegen die meisten EU-Initiativen quergelegt.

Das absurde Theater um das Exportverbot ist nur der äußere Ausdruck eines uralten Kernproblems: London wünscht kein weiteres Zusammenwachsen der EU. Das schrille Kriegsgeheul britischer Boulevardzeitungen, das in dem absurden Vorwurf gipfelt, der deutsche Kanzler wolle die im Krieg unbesiegte Insel nun im Frieden mit einem Fleischboykott in die Knie zwingen, mag man mit englischem Humor erklären. Daß die Zeitungen damit tatsächlich ihre Auflage steigern können, weist jedoch auf ein tiefes Unbehagen in der britischen Gesellschaft hin, ein Unbehagen, das wenig mit Rindfleisch und viel mit der bevorstehenden Regierungskonferenz zu tun hat.

Denn die Europäische Union ist drauf und dran, eine Staatengemeinschaft zu flechten, die britischen Traditionen fundamental entgegensteht. Seit Mai letzten Jahres arbeitet eine EU-Reflexionsgruppe am Grundriß einer politischen Union, mit der die bisher vorwiegend wirtschaftlich verflochtene Gemeinschaft auch in der Innen- und Außenpolitik zusammenrücken soll. Mehrheitsentscheidungen sollen die Regel werden, womit jedes Land riskiert, überstimmt zu werden.

Nicht nur Großbritannien hat damit seine Schwierigkeiten, auch für Frankreich ist der Souveränitätsverlust ein ernstes Problem. Doch auf dem Kontinent überwiegt die Einsicht, daß die nationale Souveränität längst eine Chimäre ist. Nachbarn sind voneinander abhängig, ob sie es wollen oder nicht. Das deutsche Asylgesetz hat Auswirkungen auf Frankreich und umgekehrt. Es ist kein Zufall, daß die weitestgehenden Forderungen an die politische Union von kleinen Ländern wie Belgien aufgestellt werden. Wenn man schon den Entscheidungen der Großen ausgeliefert ist, dann will man wenigstens besser mitreden können.

Für Belgien wie auch für die fünf anderen Gründerstaaten war der Aufbau der Europäischen Gemeinschaften zu keiner Zeit bloß wirtschaftlich motiviert. Das kleine Land ist durch eine schlimme Geschichte geprägt. Spanier, Österreicher, Franzosen, Holländer, Deutsche, sie alle standen irgendwann mit Knobelbechern in belgischen Wohnzimmern. Erst mit der Gründung der Montanunion 1951 bekam Belgien durch die gemeinsame Verfügungsgewalt über die kriegswichtigen Stoffe Kohle und Stahl Einfluß auf die Politik der Nachbarn. Im belgischen Bewußtsein ist die EU der wichtigste Garant, daß die Nachbarn friedlich bleiben.

Großbritannien blieben solche Erfahrungen erspart. Wilhelm der Eroberer war vor fast tausend Jahren der letzte Ausländer, der die Insel militärisch einnehmen konnte. Für die Briten ist die Sicherung des Friedens eine Frage von Machtbalance und militärischer Bündnispolitik. Und dafür ist nach Auffassung Londons allein die Nato zuständig. Bis heute geht die britische Regierung davon aus, 1973 im wesentlichen einer Zollunion beigetreten zu sein. Nicht erst Maggie Thatcher, schon die vorher regierende Labour Party kämpfte gegen den wachsenden Einfluß aus Brüssel. Auch der heutige Labour-Chef Tony Blair wird in wichtigen Punkten ähnlich stur sein. Aus britischer Sicht ist die EU ein Instrument zur Durchsetzung des Freihandels, mehr nicht.

Seit Jahren kennt Brüssel die immer gleiche Standardsituation: 14 Länder stehen zum Freistoß bereit, und Großbritannien mauert. Der Europäische Gerichtshof soll für die Kontrolle über Europol zuständig sein – London wehrt ab. Für alle Beschäftigten in Europa sollen soziale Mindeststandards gelten – London stellt sich quer. Die gemeinsame Innen- wie auch die Außenpolitik soll durch Mehrheitsabstimmungen effektiver werden – London blockt ab.

Es ist das gute Recht jeder Regierung, ihre nationalen Interessen mit allen rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln auch gegen die EU-Mehrheit durchzusetzen. Aber die anderen EU-Länder dürfen sich nicht länger um die grundlegenden Fragen herumdrücken: Welches Europa soll's denn sein, was muß die EU leisten, und wie weit ist das mit den Vorstellungen der Briten zu vereinbaren?

Bisher hat sich die EU stets mit bedenklichen Formelkompromissen aus der Affäre gezogen. Europol arbeitet und sammelt hochsensible Daten über Verdächtige und Unverdächtige, ohne daß geklärt wäre, wer den Beamten auf die Finger schaut. Der Binnenmarkt ist weitgehend verwirklicht, aber die nötigen EU-Gesetze gegen Sozial- und Umweltdumping prallen auf den erbitterten Widerstand aus Großbritannien.

Es geht nicht darum, Großbritannien aus der EU zu drängen. Dafür gibt es keine rechtlichen Möglichkeiten, schon der Versuch würde enormen politischen Schaden anrichten. Aber die EU entwickelt sich weiter. Die Erfahrung, daß nationale Gesetze durch die Internationalisierung der Wirtschaft an Wirkung verlieren, zwingt die Regierungen zu immer mehr Zusammenarbeit. Der nächste große Schritt ist die Währungsunion. Sie wird kommen, weil die Industrie sie braucht. Und Großbritannien wird beitreten, weil es im handelspolitischen Interesse Londons ist. Aber es zeichnet sich ab, daß die EU aus ihren Fehlern nichts gelernt hat. Um das Projekt nicht zu gefährden, haben Kohl& Co bisher darauf verzichtet, die politische Zusammenarbeit zur Bedingung für die Währungsunion zu machen. Wie schon bei der Einführung des Binnenmarktes hoffen sie, daß das wirtschaftliche Zusammenrücken mit der Zeit auch die politische Zusammenarbeit erzwingen wird. Das hat schon beim Binnenmarkt nicht funktioniert.

Die BSE-Krise hat gezeigt, welche Lücken allein der Verbraucherschutz in der Europäischen Union hat. Eine gemeinsame Umwelt-, Sozial- und Verbraucherpolitik muß deshalb Voraussetzung einer einheitlichen Währung sein. Die Hoffung auf spätere Einsicht ist gefährlich. Alle EU-Länder müssen vorher wissen, worauf sie sich einlassen, auch Großbritannien. Alois Berger