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„Was wir machen, ist keine Politik“

■ Aufmüpfige SPD-Basis: Petra Müller vom Kreisvorstand Eimsbüttel will Visionen statt Krisengeschwafel. Eine Gegenrede zu Jörg Kuhbiers Leitantrag „Zukunft der Arbeit“

Sie haben sich sehr geärgert über den von SPD-Landeschef Jörg Kuhbier vorgestellten Leitantrag zum Thema Zukunft der Arbeit und des Sozialstaates. Wieso denn eigentlich, Herr Kuhbier ist doch so ein netter und integrativer Landesvorsitzender?

Petra Müller: Es geht mir nicht um die Person, sondern um das Prozedere. Der ganze Leitantrag ist an der Basis überhaupt nicht verankert. Weil man meint, zu dem Thema jetzt dringend etwas sagen zu müssen, wurde auf die Schnelle etwas zusammengezimmert. Und das merkt man dem Antrag an. Fatal finde ich außerdem, den Antrag der Presse schon jetzt vorzustellen. Auf dem Parteitag im August können wir dann nur noch unser Händchen heben und hinterherwinken.

Muß man der Parteispitze das Wort Parteibasis erst einmal buchstabieren?

Ich habe mal gelernt: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewußtsein. In weiten Teilen der Hamburger SPD, vor allem im Kreis der Parteifunktionäre, sitzen zur Zeit die sogenannten „Besserverdienenden“. Ob die „Besserverdienenden“ es wirklich besser verdient haben, ist eine andere Frage. Ich finde, daß viele Leute, die arbeitslos sind, etwas Besseres verdienen. Ob unsere Funktionäre es sich wirklich vorstellen können, wie es diesen Menschen geht, muß ich bei einigen Inhalten dieses Antrags bezweifeln. Man hat versäumt, mit Betroffenen und Gewerkschaften im Gespräch zu bleiben. Das rächt sich jetzt.

Kuhbier hat gesagt, die SPD brauche keine Visionen. Sind Sie in der falschen Partei?

Diese Partei hat immer von Visionen gelebt. Früher hing in jedem sozialdemokratischen Haushalt die Freiheitsgöttin als Vision für eine bessere Zukunft an der Wand. Die SPD kann nur überleben, wenn sie wieder in der Lage ist, konzeptionell und programmatisch visionär zu arbeiten. Und damit für die Menschen, die sie ja wählen sollen, eine echte Alternative bieten.

Ist die Utopie der Arbeit nicht nur eine Mischung aus Nostalgie und Spinnerei?

Ich verstehe darunter eine neue Form von Lebensqualität: Nicht mehr haben, sondern besser leben. Wir brauchen ein anderes Lebenskonzept, das sich wegentwickelt vom calvinistischen Arbeitsethos; daß sich Menschen nicht mehr nur über die Erwerbsarbeit definieren und damit psychisch vor die Hunde gehen, wenn sie arbeitslos werden. Die Wertigkeit des einzelnen hängt nicht allein von seinem Beruf und seiner Berufstätigkeit ab.

Konkret zum SPD-Leitantrag: Warum gefällt der Ihnen nicht?

Die SPD war schon einmal weiter als in diesem Leitantrag. Wo ist der sozial-ökologische Umbau geblieben? Ist die Ökologie ein Schönwetterthema, das wir der unsäglichen Standortdebatte opfern?

Welche Alternative sehen Sie denn?

Wir müssen überlegen, wie wir den Sozialstaat finanzieren. Also: was wir besteuern. Sollten wir nicht den Umweltverbrauch besteuern statt die Arbeit? Könnte man nicht die Produktivität besteuern, um von ihrer Steigerung einerseits und Rationalisierung andererseits etwas für die Finanzierung des Sozialstaates abzuschöpfen? In früheren Diskussionen haben wir das Maschinensteuer genannt. Im Leitantrag aber wird nur an Symptomen herumgedoktert, weil kein Ziel da ist.

Haben Sie denn ein Ziel?

Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, die Steuerungsmöglichkeiten des Staates im derzeit völlig untauglichen zweiten Arbeitsmarkt einzusetzen; zwischen Markt und Staat wirklich Trendsetter für einen sozial-ökologischen Umbau zu fördern. Dann müßte so ein Sektor aber auch dem ersten Arbeitsmarkt Konkurrenz machen dürfen. Wenn er ökologisch besser und erfolgreicher ist und andere Marktanteile verlieren, müssen die sich eben umstellen.

Was haben Sie denn gegen die im Leitantrag geforderte 35-Stunden-Woche einzuwenden?

Da habe ich meinen ersten Schrei ausgestoßen. Es kann doch nicht angehen, daß ich als SPD beschließe, was die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände zu tun haben. Da kann ich auch beschließen: Morgen regnet es. Die besondere Inkonsequenz liegt dort, wo wir die Arbeitszeitverkürzung in Hamburg – als Regierungspartei – wirklich umsetzen könnten. Da ist aber von der gerade noch geforderten 35-Stunden-Woche keine Rede mehr.

Wann kam der zweite Schrei?

Bei dem Thema Schwarzarbeit. Wer den Staat und damit die Allgemeinheit wirklich bescheißt, sind die Schwarzarbeitgeber. An die muß man ran. Aber im Papier wird von „abgestuften Sanktionen“ gesprochen. Wie niedlich. Wir streicheln den Unternehmern über den Kopf und sagen: „Ei, ei, du Böser“. Über die kleinen Bußgelder lachen die sich tot. Es muß massive Strafen, auch Haftstrafen geben.

Sie fordern mehr als einen verbesserten Leitantrag, nämlich eine andere Diskussionskultur. Ist das für eine Volkspartei überhaupt zu leisten?

Was wir zur Zeit machen, ist keine Politik. Wir verabschieden einen Antrag und damit das Thema. Damit überlassen wir die Politik der Wirtschaft. Wir müssen wieder ein Ziel haben und anschließend die Wege zum Ziel suchen. Dann wird es auch Menschen geben, die sagen: Für dieses Ziel bin ich bereit zu teilen. Zur Zeit laufen wir aber auf Wegen herum, die andere ausgeschildert haben.

Das heißt in der Konsequenz: Wer mit seinem Leitantrag zu früh kommt, den bestraft die Basis. Sie wollen dieses Papier auf dem Parteitag nicht durchwinken?

Diesen Antrag kann man nur verschlimmbessern. Wir werden statt dessen fordern, die Diskussion an die Basis zurückzugeben.

Fragen: Silke Mertins

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