■ Vorschlag
: Jo Fabian im Hebbel-Theater, Einat Tuchmann am Halleschen Ufer

Die Entstehung und Bedeutung des Torkelns wird verkannt, behauptet eine Stimme aus dem Off, denn: „In Wirklichkeit handelt es sich bei Torkelnden um Suchende.“ Später wird eine Frau wunderschön Flamenco tanzen und dabei heftig auf den Boden stampfen, und ein Mann wird seinen Kopf auf den Tisch legen, und auch davon war am Anfang die Rede. Nur kann man sich nicht mehr so recht erinnern. Denn was der Regisseur Jo Fabian da live und manchmal etwas stotternd aus dem Off abläßt, ist mehr, als man sich merken kann. Und genau so soll es sein, denn schließlich geht es um „Alzheimer light“ in Fabians neuem, am Wochenende im Hebbel-Theater uraufgeführten Tanz-Theater-Stück: „Wenn wir uns nicht mehr erinnern, was einmal Glück war – gibt es wahrscheinlich nur noch Glück!“ Jo Fabian lockt seine Zuschauer in die Alzheimer-Falle. Man unterhält sich prächtig, weiß allerdings nicht genau, worüber, denn zwischen nichts und niemand gibt es einen Zusammenhang.

Die Bühne: Eine Gaststätte mit zu vielen Tischen und Stühlen und einem Kellner, der in der Regel keine Bestellungen entgegennimmt. Ein Mann mit Blumenstrauß, der von weit her kommt und schon in vielen Fabian-Stücken unterwegs war, hat inzwischen nicht nur einen reichlich zerfetzten Hut, er weiß auch längst nicht mehr, was er mit seinen Blumen einmal vorhatte. Die Flamencotänzerin, die sich um den Strauß bemüht, kriegt ihn jedenfalls nicht und auch nicht die Frau, die bei Ansicht eines Fotos nicht aufhören kann, in schrilles und höchst nerviges Geplärre auszubrechen. Die bekommt Geld und heult weiter. Längst hat man aufgehört, irgend etwas verstehen zu wollen. Man erfreut sich an den Clownerien der Protagonisten, an schönen Bildern und dem Gitarrespiel von Ralf Krause.

Die Gestalt einer Gesellschaft ohne Gedächtnis kann auf dem Theater überhaupt nicht erforscht werden, behauptet Fabian im Programmheft. Aber mit „Alzheimer light“ tut er genau das. Er stopft die Köpfe der Zuschauer voll und bringt sie dazu, sich an den falschen Dingen zu freuen. So harmlos, wie es scheint, ist „Alzheimer light“ nicht. „Alzheimer light“ läßt einen verwirrt zurück. Jo Fabian ist einer der wenigen Regisseure, über die sich Zuschauer noch richtig ärgern: Weil er sein Publikum durch permanente Überforderung tatsächlich fordert.

Ganz andere, sehr spannende, wenn auch vielleicht weniger schwerwiegende Dinge gehen derweil wenige Schritte entfernt, im Theater am Halleschen Ufer, vor sich. Dort beschließen die Uraufführung von Einat Tuchmanns „Retro-Stories“ und die Wiederaufnahme von Alex B.s „Perfect Strangers“ nicht nur die diesjährige Sommer-TanzZeit, sondern auch die Ära Henne. Daß die, bei allen Problemen mit dem gehenden Intendanten, das Theater durchaus in die Höhe gebracht hat, zeigt nicht zuletzt dieser letzte Premierenabend vor der Sommerpause, der restlos ausverkauft ist, obwohl Einat Tuchmann hier ihre erste größere Arbeit präsentiert und auch Alex B. eigentlich noch zu den Choreographenküken zählt. Eigentlich. Denn ohne sich allzuviel erprobt zu haben, hat Alex B. für „Perfect Strangers“ eine ausgefeilte Tanzsprache von außerordentlicher Kraft entwickelt. So unmotiviert erscheinen die sechs TänzerInnen auf der Bühne, so irreal ist die Szenerie, so beiläufig ist der Anfang von Duetten, die sich kurz zu heftigsten Begegnungen entwickeln, so beiläufig ist aber auch das Ende dieser Kontakte, daß der Titel (im Unterschied zur ersten Fassung) sinnfällig wird: Hier sind tatsächlich „völlig Fremde“ unterwegs. Seine veränderte Wirkung hat das Stück nicht zuletzt der (neu erarbeiteten) Komposition von Alexander Birntraum zu verdanken. Der hat anhand von Videoaufnahmen die Musik dem Tanz nicht nur regelrecht auf den Leib komponiert, sondern entrückt all die Rangeleien rund um ein Louis-XIV.-Sofa mit goldenem Stuck und rotem Plüsch ins Irreale, Absurde.

Choreographisch weniger ausgefeilt ist die Arbeit von Einat Tuchmann, aber sie ist sicher mindestens ebenso entschieden. Mit gefälliger Unterhaltung hat die junge Israelin nichts im Sinn. Um mentale Obdachlosigkeit geht es ihr in „Retro-Stories“, um die Frage, wie man als Weltbürger mit dem Verlust von Heimat und Zugehörigkeit fertig wird. In Einat Tuchmanns Tanz sind Elemente von israelischer Folklore und Modern Dance unlösbar miteinander verschmolzen – nur ist etwas bei dieser Symbiose auf der Strecke geblieben. Von diesem Etwas handelt „Retro-Stories“. Es ist die unsentimentale Beschreibung eines Lebensgefühls, einer Sehnsucht, und es ist ein außerordentlich überzeugender Einstieg des Choreographie-Neulings Einat Tuchmann. Am Theater am Halleschen Ufer wird es nach dem Sommer mit einer neuen Leitung weitergehen – Alex B. und Einat Tuchmann werden mit Sicherheit mit von der Partie sein. Michaela Schlagenwerth

„Retro-Stories“ und „Perfect Strangers“: bis 26. 6., 21 Uhr, Theater am Halleschen Ufer