Grüße aus Manchester
: Nur noch England!

■ Julie verwandelt sich kafkaesk – und Lynne will Shearers Kinder austragen

Seit Samstag mittag wird man hier von Elfmetern verfolgt. Gepeinigt. Geplagt. Shearer, Platt, Gascoigne. Und natürlich Pearce. Immer wieder.

Als Stuart Pearce (34) seinen Elfmeter an den Händen von Spaniens Zubizarreta vorbei ins Netz geschossen hatte, sah man, wie sich das kindliche Gesicht des Mannes zu einer Grimasse verzerrte. „Es muß ein wundervoller Moment gewesen sein“, vermutetete sein Trainer Venables. Pearce schrie Wembley und der Welt etwas zu. Man mußte es nicht verstanden haben. Ein Elfmeter hatte ihn sechs Jahre verfolgt. Es war jener, den er im Turiner WM- Halbfinale an Illgners Beine geschossen hatte. Jimmy Hill, Englands meistgehaßter Fußball-Kommentator hatte vorher provokativ gesagt, ein möglicher Fehlschuß sei zu verkraften, für Männer, die 10.000 Pfund in der Woche verdienen.

Pearce' Schrei sagte das Gegenteil. Der Mann, den sie „Psycho“ nennen, fühlt sich von einem Fluch befreit. Vorsicht, Symbolik! Hier schreit mal wieder einer für alle: Der All-England-Boy Pearce... kein Verlierer mehr?

Es ist hier ja alles anders, seit England Fußballspiele gewinnt: Der Schallplattenkonzern HMV wirbt nun für „Three Lions“, den offiziellen Song der englischen Fußballer, mit folgendem Parallelismus:

Buy the Number One Single

by the Number One Team.

Mit diesem Spruch hätten sich Werbeleute vor einer Woche noch auslachen, peitschen, teeren und federn lassen müssen.

Vor kaum drei Wochen war es, als die Fußballfreunde den Mittelstürmer Alan Shearer im Trikot der Blackburn Rovers landauf, landab mit den schönen Worten zu begrüßen pflegten: „You'll never score for England, Shearer“. Lynne Truss andererseits hatte bis vor zwei Wochen noch nie von dem Menschen gehört. Nun, schreibt sie in The Times, „will ich seine Kinder austragen“.

Hundert Meter weg von Villa Park, da wo die M 6 Birmingham durchschneidet, hängt ein Plakat. Es hängt auch in der Nähe von Old Trafford, Manchester. Ein Schuhkonzern hat es aufgehängt. Paolo Maldini guckt italienisch in die Gegend und sagt den schönen Satz: „Der leichteste Job in Europa. Torhüter von Italien.“ Es ist wahr: Alles, was man dafür braucht, ist ein Sessel, ein Fernseher und etwas Knabbergebäck.

„Lange Zeit war ich die größte Kritikerin des Fußballspiels“, schreibt Julie aus Liverpool ihrem Lokalblatt Echo. „Ich habe schlechtgelaunt ertragen, daß mein Ehemann und mein Bruder jeden Samstag stundenlang ,Match of the Day‘ und anderen Fernsehfußball gucken. Ich habe nie verstehen können, was die ganze Aufregung soll. Ich war eine der ersten, die nach der erbärmlichen Vorstellung Englands gegen die Schweiz murrten: ,Ich habe es doch schon immer gesagt‘.“

„Nun aber“, schreibt Julie, „muß ich ein Geständnis machen: Seit vergangenen Dienstag bin ich wie gebannt. Nun sehe ich, was Fußball WIRKLICH bedeutet.“ An Julies Arbeitsstelle reden die Girls nur noch über die Siege von England! Und können es kaum erwarten, bis das Halbfinale gespielt wird! Julie fragt sich nun, wie viele Ehefrauen, Freundinnen, Schwestern etcetera wohl ebenfalls vom „Euro-96-Fieber“ erfaßt sein mögen. Sie wettet: bestimmt einige. „Wenn ich gewonnen werden konnte“, schreibt sie, „kann jede gewonnen werden.“

Das Echo läßt Julie für ihre schönen Zeilen die Summe von zehn Pfund zukommen. Wir aber versprechen der ersten taz- Leserin, die uns von einer ähnlich kafkaesken Verwandlung zu berichten weiß, mindestens elf. pu