Wie Sparwut Wendewut schafft

Macht der Westen nach den Werften jetzt auch noch die Theater kaputt? Im krisengeschüttelten Mecklenburg-Vorpommern sind die Bühnen Bastionen des Widerstands  ■ Von Nikolaus Merck

Manchmal wünscht man, der Herrgott möge Hirn vom Himmel schmeißen. Dann wüchse vielleicht doch nicht zusammen, was offensichtlich zusammengehört. Der Verfassungsschutz und die Stasi etwa. Aber Gott ist tot (oder wenigstens unbekannt verzogen), und so kann es schon einmal vorkommen, daß der Verfassungsschutz von Mecklenburg-Vorpommern, um rechtsextremistischen Umtrieben „vorzubeugen“, Campingplatzbetreiber wenig verfassungsgerecht zur Bespitzelung von „Buntgescheckten, Punkern und Langhaarigen“ aufruft. Legal, illegal, scheißegal, und wer kann schon links und rechts auseinanderhalten. Von Innenminister Rudi Geil solcherart höhere Einsichten zu verlangen, ist zugegeben viel verlangt. Immerhin war der Mann in der „guten alten Zeit“ Amtswalter in Rheinland-Pfalz.

Derlei unbeirrter Herrschaft des gesamtdeutschen „Weiter so“ wurde dieser Tage die Quittung erteilt. Laut einer Umfrage wünscht ein gutes Viertel der Bürger von Neufünfland die Vereinigung zum Teufel und sehnt sich nach einem zweiten deutschen Staat zurück.

Dieser ersehnte Ausweg aus der verwirrenden Gegenwart in die alte Übersichtlichkeit wird im Theater Bild. Christina Emig-Könnings Version von „Die Stühle“ spielt auf dem Dachboden einer aufgelassenen Industrieruine. In Ionescos tragischer Farce – mit ihr gastierte das Volkstheater Rostock Mitte Juni beim „20. Norddeutschen Theatertreffen“, das dieses Jahr als Teil des „Europäischen Festivals ‘96“ in Schwerin stattfand – durchkämpfen die beiden Alten zum letzten Mal ihr lebenslanges Eheritual.

Zwischen den herbeigeschleppten Stühlen für das imaginäre Auditorium entfaltet sich ein Furioso der Körper. Allmählich lösen sich die beiden Untoten aus lehmverschmierter Starre und verwandeln sich in Kinder, in Liebende, die sich gleichsam nach rückwärts in ein neues Leben befreien. Die bevorstehende, aber niemals stattfindende Verkündigung der Welterlösungsformel verleiht ihnen Flügel, auf denen sie ihre zerstörte Erinnerung durchqueren. Nicht wie bei Ionesco ein Sprung aus dem Fenster – der gemeinsame Tod im Doppelmord beendet den Tanz um das verlorene Leben.

Die bizarre Welt des absurden Theaters – in Mecklenburg-Vorpommern gewinnt sie ungeahnte Realität. Die einzige Verheißung hierzulande sind die phantastischen Wolkentürme am blauen Himmel. Der Rest: eine einzige Krise mit zwei Millionen Einwohnern. Die Werftindustrie ist praktisch pleite, andere Industrie weitgehend inexistent. Die Arbeitslosigkeit mit realen 30 Prozent die höchste weit und breit. Um die Neuverteilung von Grund und Boden tobt noch immer ein stiller Kampf zwischen Genossenschaften und Alteigentümern. Ostseeautobahn, Transrapid: Die Bevölkerung dieses dünnbesiedelten Landstriches läßt sich alles aufschwatzen, vielleicht bald auch ein Atommüll-Zwischenlager bei Greifswald, weit draußen in Nordost, wo sich Fuchs und Hase an der polnischen Grenze gute Nacht sagen. Für Arbeitsplätze tun die Menschen hier (fast) alles.

Einen Rest von Identität stiftet immerhin noch die Kultur. Anders ließe sich gar nicht verstehen, wie es etwa in Schwerin, einer Stadt mit knapp 120.000 Einwohnern, gelingen konnte, binnen weniger Wochen 28.000 Unterschriften für den Erhalt des Theaters zu sammeln. Indes, von zwölf „Theaterstandorten“ im Jahre 1990 existieren heute in ganz Mecklenburg- Vorpommern nur noch vier, in Rostock, Schwerin, Neustrelitz und das gemeinsam betriebene Theater Vorpommern in Stralsund und Greifswald. Außerdem drei fahrende Kleinensembles für Kindertheater in Anklam, Parchim und Neubrandenburg. Doch mittlerweile kreist der bundesdeutsche Pleitegeier auch über diesen Häusern. Die Kassen von Stadt und Land sind total leer.

Entsprechend schlechte Stimmung herrschte bei den Theaterleuten in Schwerin, als im Rahmen des noch bis Ende Juni dauernden Europäischen Festivals zu nächtlicher Stunde die Zukunft der Theater in Mecklenburg-Vorpommern zur Diskussion stand. Besonders erbitterte die „Kunstschaffenden“, daß trotz Ebbe in der Kasse noch jede Preßspanfabrik ungeachtet ihrer Absatzchancen mit Extrazuschüssen des Landes rechnen kann, wenn Arbeitsplätze in Gefahr geraten. Nicht so die Theater. „Das ist eine ungeheure Mißachtung der Künstler“, schallte es aus den Reihen der Rostocker, wo man nicht versteht, warum Arbeitsplätze in der Industrie mehr wert sein sollten als in der Kunst. Nach den Werften richten „die Politiker“ nun auch das Theater zugrunde, lautete ihr Vorwurf.

„Lassen Sie doch den blöden Klassenkampf-Quatsch!“ Karl- Heinz Zimmer, Oberbürgermeister von Kiel und Chef des Bühnenvereins Nord, riskierte eine Tracht Prügel, aber das wußte er nicht. Sowenig wie er je einsehen wird, daß dieser falsche Ton täglich neu die Wendewut des Ostens auf „Westler“ und „die da oben“ weckt. Die Kultusministerin Regine Marquardt, auch sie, obgleich Ostdeutsche, als Regierungsmitglied „eine von denen“, war der Diskussion ferngeblieben.

Gutwillig, doch ohne Geschick kämpft sie seit Monaten um den Erhalt der „Standorte“. Anders als alle übrigen Bereiche ihres Ressorts blieb der Theateretat seit zwei Jahren unangetastet. Aber mehr Geld für die ausblutenden Theater will sie sich nicht leisten, und das kommt bei der unausweichlichen Anhebung der Löhne auf Westniveau einer Kürzung gleich. Für ihren Vorschlag, das Schauspiel von Greifswald/Stralsund mit dem von Neustrelitz zusammenzulegen sowie eine landesweite Ballettkompagnie zu schaffen, hatte das Publikum nur eine Antwort: „Gelaber!“ Manfred Straube, Generalintendant des Rostocker Volkstheaters, platzte gar der Kragen: „Das nenne ich Schwachsinn!“ Wenn die Tanz- Ensembles an den Theatern durch eine Landeskompagnie ersetzt würden, könne man den Großteil des Opernrepertoires vergessen.

Mag sein, es dauert nicht mehr lange, und die fahrende Truppe, die in Christina Friedrichs ebenfalls zum Nord-Theatertreffen geladener Bremer Inszenierung die Geschichte des Außenseiters „Woyzeck“ zwischen Jahrmarktsbuden aufführt, wird Wirklichkeit in Deutsch-Nordost. Und nicht nur da. Denn auch in Bremen weiß man, wovon man spricht. Mit Ach und Krach entging das Theater gerade noch der Sparwut einer von der Standortdebatte trunkenen und von allen guten Geistern verlassenen Politik. Ginge es nach deren Gesichtspunkten, bevölkerten zur Jahrtausendwende nurmehr fahrende Komödianten die Theaterlandschaft und die festen Häuser würden in Parkgaragen oder Musicaltheater verwandelt – in Ost und West gleichermaßen.

Östlich der Elbe dagegen wird das Theater nach wie vor meist als exklusive moralische Anstalt (Ost) verstanden: Über die Köpfe des Volkes reden die Machthaber hinweg, wortmächtig und verständnislos. Die Macht sitzt im Westen und will nach der Industrie jetzt auch die Kultur ans Messer liefern. „Die Welt ist ein blutig Eisen“, heißt es im „Woyzeck“.

Währenddessen leuchtet draußen in der Nacht das 24-Stunden- Benzinparadies wie eine letzte Oase des Glücks. Trauben von Jugendlichen drücken sich am Rande ihres Lichtscheins zwischen Schweriner Plattenbauten herum. Längst ist die Mehrzahl der Jugendklubs und Kulturhäuser hier wie überall in Mecklenburg-Vorpommern abgewickelt.

Eine der letzten Alternativen in dieser Unbehaustheit bietet das Theater. Nicht nur an Gymnasien existieren zahlreiche Schülertheatergruppen, die Theater veranstalten jährlich Schülertheatertreffen und „Theatertage für Padägogen“, und viele Schulen bieten schon für die Jüngsten dramatischen Unterricht als Wahlpflichtfach an. Aufführungen wie „Hamlet“, „Kabale und Liebe“ oder „Richard III.“ gelten Jugendlichen in Schwerin, man mag es kaum glauben, als Attraktion. Fanklubs umschwärmen die sehr jungen Hauptdarsteller wie Rockstars, an der Zahl überreichter Geschenke läßt sich der jeweils neueste Stand auf der Beliebtheitsskala ablesen.

Die mut- und phantasielose Sparpolitik setzt gegenwärtig auch diese, im ohnehin arg zerrütteten Sozialgefüge der Städte wichtige Funktion der Theater aufs Spiel. Dabei klang der Vorschlag von Schwerins Oberbürgermeister Kwaschik doch einleuchtend, den zur Werftenrettung benötigten Kredit um ein Weniges für die Theater aufzustocken. Eine Antwort blieb die Landesregierung schuldig.

So wird in Mecklenburg-Vorpommern das traditionsstolze deutsche Stadt- und Staatstheater wohl spätestens nach der übernächsten Sparrunde der Vergangenheit angehören. Wenn nicht wider Erwarten doch noch ein Wunder geschieht und der liebe Gott (am Ende gibt es ihn doch?) ein wenig Hirn vom Himmel herunterwirft. Aber ob Politiker in Mecklenburg-Vorpommern es überhaupt zu gebrauchen wüßten?