Gefährlich brav?

Deutschlands StudentInnen haben keine Lust, die Welt zu verbessern. Sich politisch engagieren? Nur Religion ist ihnen noch unwichtiger  ■ Von Martin Ebner

Schön grün und postmodern – so sah 1979 die Zukunft aus. Der Amerikaner Ronald Inglehart hatte in mehreren europäischen Ländern Daten gesammelt und verkündete: Ein Wertewandel finde statt. Die Jugendlichen, vor allem die Studenten, könnten mit Wohlstand, Sicherheit und Konkurrenzdenken nichts mehr anfangen – ihnen gehe es um „postmaterielle Werte“ wie Selbstverwirklichung, soziale Beziehungen und Schutz der Umwelt. Inglehart sprach von einer „stillen Revolution“.

Was ist daraus geworden? Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie befragten ForscherInnen der Universität Konstanz zuletzt im Wintersemester 1994/95 an 22 Hochschulen in ganz Deutschland 20.000 Studierende, was sie von ihrem Studium, von der Politik, Gott und Europa halten. Die Studie ergab: Die meisten Studierenden „haben kein starkes allgemeines politisches Interesse und sind konventioneller und pragmatischer“ als frühere Generationen, so Tino Bargel, einer der beiden Leiter der Konstanzer „Arbeitsgruppe Hochschulforschung“.

Die Mehrheit ist zwar nach wie vor „grün-rot“ orientiert. Die „Meinungsführerschaft im politischen Klima“ der Unis aber haben die meist brav und konservativ ausgerichteten Studierenden der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften übernommen – wegen ihrer größeren „individuellen Energie und organisatorischen Präsenz“. Die vergleichsweise links- alternativen Kultur- und Sozialwissenschaftler dagegen haben sich „in einer kollektiven Schweigespirale zurückgezogen und stellen „nicht mehr den dominierenden Widerpart“ dar.

„Verstaatlicht die Banken! Enteignet die Unternehmer!“ – solche kommunistischen Forderungen werden nur noch an ostdeutschen Universitäten von kleineren Gruppen vertreten. In Westdeutschland hat die Begeisterung für sozialistische Ideale stark abgenommen – die Konstanzer Hochschulforscher stellen „zugleich eine Desensibilisierung gegenüber Themen der sozialen Gerechtigkeit“ fest.

Nach einer Phase der Aufgeschlossenheit in Frauenfragen distanzieren sich die Studenten auch zunehmend von feministischen Forderungen. Im Prinzip sei Gleichberechtigung schon gut, meinen sie – aber nur, wenn die Frauen auch weiterhin die Hausarbeit machen und nicht etwa versuchen, Arbeitsplätze an den Universitäten zu ergattern.

Vor allem die jüngeren Semester an den Universitäten haben keine Lust, sich in der Friedensbewegung zu engagieren, in einem autonomen Arbeitskollektiv mitzuarbeiten, sich bei Bürgerinitiativen zu beteiligen oder neue Formen des Zusammenlebens zu suchen.

Direkt „rechts“ sind die Studierenden aber auch nicht. Ausländerfeindliche Parolen und nationalistisches Gedankengut finden allenfalls bei Fachhochschülern in der Ex-DDR noch größeren Zuspruch. Mit rund 30 Prozent sind rechte und linke Radikalinskis in Ostdeutschland allerdings eine „in ihrem Umfang relevante“ Minderheit. Insgesamt aber hat die Unterstützung extremistischer Positionen seit der letzten Erhebung im Jahr 1992 abgenommen.

Demokratische Grundwerte wie die Meinungsfreiheit werden fast ebenso einhellig akzeptiert, wie Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzungen abgelehnt wird. PolitikerInnen, Parteien und Parlamente stoßen dagegen in Ost wie West auf heftige Kritik und Mißtrauen. Obwohl hier die Konstanzer Hochschulforscher eine latente Protestbereitschaft ausmachen, hat kaum jemand das Bedürfnis, selbst an der Uni aktiv zu werden. Tino Bargel: „Die politischen Hochschulgruppen haben kaum noch Mitglieder und stoßen auch ansonsten auf wenig Aufgeschlossenheit.“ Nur „Religion und Glaube“ sind den Studenten noch unwichtiger.

Etwas aufgeweckter sind die Hochschüler bloß, wenn es um die eigene Studiensituation geht. Immerhin 16 Prozent wären bereit, sich für mehr Bafög, eine Entrümpelung der Studiengänge, Verbesserungen der Lehre und mehr Hochschulpersonal in Aktionsgruppen zu engagieren. Kein Wunder, bewertet doch ein Drittel der Studenten ihre Betreuung durch Lehrende und die „räumliche und sachliche Ausstattung“ in ihrem Fach als „sehr schlecht“.

Ost- und westdeutsche Studis sind dabei jedoch nicht einmal in ihrem Leid vereint. Was wissen sie über die „Lebensbedingungen der Studierenden im anderen Teil Deutschlands“? „Interessiert mich nicht!“ antworteten 27 Prozent der Hochschüler im Westen und 17 Prozent der Befragten im Osten. Die Ossis bedrücken vor allem finanzielle Sorgen und die trüben Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. Die Wessis dagegen klagen über das „deprimierend schlechte soziale Klima“ an ihren Massenunis, den Ausfall wichtiger Lehrveranstaltungen und den fehlenden Forschungs- und Praxisbezug ihres Studiums.

Diese Unzufriedenheit kommt jedoch den etablierten Uni-Gremien nicht zugute. „Mitbestimmungsrechte und Entscheidungsstrukturen an der eigenen Hochschule“, stellt Tino Bargel fest, „sind meist unbekannt“ – vor allem in Westdeutschland interessiert sich kaum jemand dafür. Allenfalls die Fachschaften finden eine gewisse Resonanz, die studentischen Selbstverwaltungen – meist Asta oder StuPa genannt – haben große Schwierigkeiten, ihre Klientel zu erreichen.

Daß die Mehrheit der deutschen Studierenden sich nicht organisieren will und gar nicht daran denkt, „das System zu sprengen“ oder „die Welt zu verbessern“, dürften die meisten Politiker wohl beruhigend finden. Tino Bargel aber hält die „Gleichgültigkeit“ der Studentenschaft „für gefährlich“. Der Hochschulforscher sieht hier „Verantwortungslosigkeit, Egoismus und Mangel an Innovationsfreudigkeit“.