Kampf um Integrität

■ Marlene Streeruwitz liest aus ihrem Roman „Verführungen“

Helene lebt in Wien und führt ein Leben, das ihr aufgedrängt worden erscheint. Aber sie klagt nicht, die alltäglichen Katastrophen sind Überforderung genug. Ihr Mann, ein aggressiver, die Alimente nicht zahlen wollender Akademiker, hat sie verlassen, ihre Freundin Püppi meldet sich nur, wenn sie wieder mal abzustürzen droht. Helene hat eine Affäre mit einem verschlossenen Klavierspieler, der nie da ist, wenn sie ihn braucht, und zwei kleine Töchter am Hals, die sie mehr liebt als alles andere. Doch diese Liebe zu den Kindern kann leider nicht alles im Leben sein.

Alltägliche Malheurs und unglückliche Zufälle zieht Helene magisch an. Dennoch: unbeirrt, wenn auch immer wieder den Tränen nahe, schafft sie es, die patente Frau zu spielen. Sie hat einen Halbtagsjob als Sekretärin in einer PR-Agentur angenommen, und der chauvinistische Chef will sie auf Fototerminen unbedingt dabeihaben, weil sie Seriosität und Atmosphäre ausstrahlt.

Dies alles erzählt Streeruwitz in einem eigenwilligen Schreibstil: ein stereotyp voranhetzendes Stackato, erzeugt durch eine Aneinanderreihung von Hauptsätzen und erlebter Rede, die rhythmisch oft unterbrochen werden und so eine aufwühlende Unruhe erzeugen. Die stilistische Gefahr eines überstrapazierten Monotonie-Geratters wird jedoch mühelos überwunden, indem die Anti-Heldin zu einer Sympathieträgerin durch Anteilnahme emporwächst. Dem rasant-unterkühlten Schreibstil steht eine überaus weichherzige Frauenfigur gegenüber, die zwar Vieles mit sich machen läßt, aber bis zuletzt moralisch integer bleibt.

Der österreichischen Autorin Marlene Streeruwitz, die sich bisher vor allem als Dramatikerin grotesker Stücke einen Namen gemacht hat, glückt mit diesem Romandebut über ein unspektakuläres Frauenschicksal die Liaison zweier Gegensatzpaare: Unterkühlte Distanz und Emotionalität können in der Literatur auf einmal genausogut miteinander fusionieren wie avantgardistische Schreibe und klischeefreundlicher Abbildungsrealismus. Außerdem trifft ihr Bild von einer ausgelaugten Frau in einer Welt, in der auf niemanden außer frau selbst mehr Verlaß ist, den Nerv der Zeit an der vielleicht empfindsamsten Stelle: der der Eigenverantwortung. . Stefan Pröhl

Heute, 20 Uhr, Literaturhaus