Alpträume eines Schlafwagenschaffners

■ Erziehung des Herzens: Und noch ein junger Mann zieht aus, sein Glück zu machen und muß dabei das Fürchten lernen. Obergs „Unter der Milchstraße“

Ein bescheidenes Bündel Geld von der Mama, ein Köfferchen und rote Backen vor Aufregung: Mehr hat der angehende Student in M. X. Obergs „Unter der Milchstraße“ nicht dabei, als er in Berlin in den Zug steigt. Am nächsten Morgen soll das Leben beginnen. Doch auf dem Bahnhof in München ist das Geld leider nicht mehr da. Was läge näher, als sich gleich an Ort und Stelle nach einem Job umzusehen? Das Astronomiestudium muß erst mal warten. Der junge Mann wird Schlafwagenschaffner.

Erzählt wird getreu dem alten Romanmuster vom Jüngling, der auszog, sein Glück zu machen und das Fürchten zu lernen. Dem Held geht es wie Frédéric aus der „Education Sentimentale“ oder Karl Roßmann aus Kafkas „Der Verschollene“: Stock und Hut / steh'n ihm gut / ist gar wohlgemut. Doch die Welt kann hart sein. Der fiese Ausbilder hat es auf ihn abgesehen. Ein Kollege zerrt ihn erst in Schwulenbars und dann ins Bett. Ein anderer (Detlef Buck) fuchtelt plötzlich mit einem Revolver herum. Auch einige Frauen sind sehr gefährlich. Der junge Mann macht dazu nur große, unschuldige Augen, unter denen sich – Schlafen ist verboten – immer schwärzere Ringe bilden.

Im Vorbeifahren erschießt er eine Kuh. Zwischen Königsberg, Budapest und Florenz reißt der Strom traumartiger nächtlicher Ereignisse nicht ab. Benommen vom halluzinatorischen Rattern der Züge, der Dunkelheit und der Stickigkeit und Enge des Dienstabteils taumelt der Held durch die langen Nächte. Die Sonne sieht er nur während der knappen Stunden mit seiner Mitstudentin und Geliebten (wie immer bezaubernd: Sophie Rois).

Doch ganz kann er sich nicht für sie entscheiden. Sein Kollege, ein schmieriger Beau (Antonio Paradiso), der die Zugfahrten zum Kokainschmuggel nützt, zieht ihn zum Assistenten heran, und der Novize, dankbar für die falsche Freundschaft und angetan vom Unterweltglamour, macht willig mit. Aus dem herzigen Naivling ist ein Ganove im Nadelstreifenanzug geworden. Initiiert und der Unschuld beraubt, wird es ihm auf dem Festland nun zu eng. Doch die Vorsehung hat im Hafen schon die „Global Dream“ bereitgestellt, sie wartet nur, daß er anheuert.

Oberg hat, trotz mancher Untiefen, eine charmante Geschichte zu erzählen, die zusammengewürfelten Darsteller raufen sich lustvoll zusammen, und Roger Heeremann (Kamera) holt aus der Enge der Zugabteile beeindruckende Bilder hervor. Doch all das war ihm nicht genug, er wollte unbedingt eine Allegorie aufs Leben dichten. Leider erliegt er dabei der Versuchung, den Fundus abgelebter romantisierender Versatzstücke zu plündern. Und dagegen kommt selbst Fabian Buschs Unbekümmertheit nicht an. Jörg Häntzschel

„Unter der Milchstraße“. Regie: M.X. Oberg, Deutschland 1995