Wie man sich mit der Welt anfreundet

Nach dem Ende des Kalten Krieges boomt das Denken der politischen Philosophin Hannah Arendt. Ein großer Kongreß in Zürich versammelte neubekehrte Anhänger, abtrünnige Schüler und feministische Kritikerinnen  ■ Von Marie-Luise Knott

Hannah Arendt ist derzeit hoch im Kurs. Über Jahrzehnte war das Verhältnis zu Hannah Arendt von dauerhafter Entfremdung gekennzeichnet, was auf der politischen Rechten an ihrer Betonung der Spontaneität, ihrer Propagierung des Rätegedankens und ihrer Emphase des Handelns lag; auf der Linken hingegen stand ihr nicht zuletzt die hiesige Dominanz der Sozialwissenschaften und der vorherrschende Antiamerikanismus entgegen.

Parolen wie „das Private ist politisch“ widersprachen zudem zutiefst der Arendtschen Grundunterscheidung (und strengen Trennung) des Privaten (als einem Bereich, der im Verborgenen bleibt) vom Politischen als einer Arena, in der die Menschen als Gleiche, Handelnde ins Licht der Öffentlichkeit treten. Seit Anfang der achtziger Jahre ist der Bann gebrochen, ihre Totalitarismustheorie nicht mehr nur als Produkt des Kalten Kriegs wahrnehmbar.

„Politikinitiativen“, ein kleiner Schweizer Verein, der es sich zum Ziel gesetzt hat, „Übungen im politischen Denken“ zu befördern, und zu diesem Zweck auch eine eigene Zeitschrift gleichen Namens unterhält, lud am vergangenen Wochenende zu einem „Festival“ ein, bei dem nicht allein die Theoretikerin Hannah Arendt, sondern auch die Person im Zentrum stehen sollte. Ursula Ludz, die Hauptherausgeberin der Werke Hannah Arendts in Deutschland, Lotte Köhler, die Nachlaßverwalterin aus New York, und Klaus Piper, ihr damaliger Verleger, hatten den Weg nicht gescheut.

Hinzu kamen bedeutende Wissenschaftler und Hannah-Arendt- Forscherinnen resp. Forscher aus der Schweiz (Hans Saner, Maja Wicki), aus Deutschland (Ingeborg Nordmann und Wolfgang Heuer), aus Belgien (Anne Marie Roviello) aus England (Margaret Canovan) und aus Frankreich (Claude Lefort). Auch eine Feministin (Christina Thürmer-Rohr), ein Ökologist (Kerry H. Whiteside) und ein Ossi (Wolfgang Engler) waren vertreten. Ein Marathon der Vorträge, der für jeden etwas zum Denken bot. Und jede Menge Stoff, Stoff auch für hitzige Debatten, zu denen die Sperrigkeit ihres Denkens nachgerade einlädt.

„Ich habe in den letzten zehn Jahren ihres Lebens viel mit ihr gestritten“, berichtete der Historiker und Kulturwissenschaftler Richard Sennett über sein Verhältnis zu Hannah Arendt. Sennett, der in den sechziger Jahren bei Arendt studiert hat, sieht in dem Wandel der Arbeitswelt, wie er sich derzeit vollzieht, in der permanenten Reorganisation der Zeiten und Formen, mit denen die Lernzeit der Arbeitenden kaum mehr Schritt halten kann, eine große Gefahr. Er diagnostiziert eine zunehmende „Entfähigung“ der Menschen, die sie davon abhalte, überhaupt noch Verantwortung zu übernehmen. Seine Kritik an Hannah Arendt: Sie habe als Lehre aus der Analyse des Totalitarismus zu sehr die verfassungsmäßige Garantie gleicher Rechte in den Vordergrund gestellt. Doch eine solche „Entlastung durch Unpersönlich-Machen“ reiche heute nicht aus. Es gelte daher, kulturelle Foren zu schaffen, einen neuen contrat social zu erdenken, um die Menschen von der Suche nach Identität am Arbeitsplatz zu entlasten und ihre Selbstachtung auf einem anderen Bereich herzustellen.

Ingeborg Nordmann entschlüsselte am Vergleich mit Benjamin und Kafka und an einer Auseinandersetzung Arendts mit diesen beiden Autoren die methodische Entscheidung, die Arendt mit ihrer Totalitarismusstudie getroffen hatte: Die Abwendung von dem deduktiven Vorgehen traditioneller Geschichtswissenschaft. Ihre Hinwendung zu einer „literarischen“ oder essayistischen Herangehensweise stelle das „Ereignis Totalitarismus“ in den Mittelpunkt, ohne daß sich ihr im Unterschied zu Benjamin eine messianische Perspektive eröffne. Während Kafka sich auf die Destruktion konzentriere, auf die Verkehrung der Normalität, suche Arendt nach der dem Menschlichen innewohnenden Widerstandskraft.

Die feministische Wissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr betonte zwar die Leuchtkraft, die Arendts Emphase des „Anfangens“ („ein Anfreunden mit einer Welt, die zerstörbar ist“) für soziale Bewegungen besitze. Doch die Arendtsche Ausblendung der Abhängigkeitsverhältnisse, die Tatsache, daß Hannah Arendt den sozialen Entbehrungen als Motor des Handelns keine Bedeutung beimesse, ja, ihr gesamter Rückbezug auf die griechische Polis sei, so Thürmer-Rohr, elitär und realitätsfern.

Hannah Arendts Idee von der Gebürtigkeit des Menschen als Arendts „Wette“ (Paul Ric÷ur) gegen den Totalitarismus stand im Zentrum mehrerer Beiträge. Hannah Arendt erachtete die Gebürtigkeit als Chance der Menschheit, dem sturen Lauf der Geschichte zu entgehen und immer wieder etwas Neues in die Welt zu setzen („Was daraus wird, wissen wir nie“). Während Hans Saner das Spektrum dieser Gebürtigkeit entfaltete, dem philosophisch gesprochen die Freiheit des Handelns entspricht, untersuchte die Schweizer Philosophin Maja Wicki die Dialektik dieses Gedankens: Geboren zu werden als Jude beziehungsweise Jüdin wie Arendt selbst, stand, zumal in Arendts Tagen, nicht einfach im hellen Licht eines Neuanfangs mit offenem Ausgang, sondern war eher als „Geworfenheit in die jüdische Existenz“ zu beschreiben. Maja Wicki entfaltete diese „Spannung von geschichtlicher Bedingtheit und Neubeginn“, berichtete von dem Scheitern der jüdischen Assimilation, von dem verzweifelten Versuch, „neu geboren zu werden“, der die Flucht in die Fremde begleitet.

Hannah Arendt bleibt als Person wie als Denkerin sperrig. Stoff zum Streitgespräch gibt es allenthalben. Doch eine Diskussion kam nicht auf. Lag dies an dem Überangebot, das keinen Raum ließ? Oder lag es vielleicht – welche Ironie angesichts einer Theoretikerin der Öffentlichkeit – gerade an der politischen Entscheidung der Veranstalter, die Tagung auch für Nichtexperten öffentlich zu machen?

Die Veranstalter hatten sich – der Versuchung von Öffentlichkeit erlegen – dazu entschieden, grundsätzlich nach den Vorträgen keine Diskussion auf dem Podium zu initiieren, sondern gleich nach den Referaten zu „Fragen aus dem Publikum“ überzugehen. So blieb eine Vertiefung der Thesen, mit denen die Vortragenden angereist waren, aus. Schade.