Ohne Glück bleibt ein abgebrochener Riese

■ Nach dem Sieg im EM-Halbfinale: Hat Berti Vogts alles richtig gemacht?

London (taz) – Berti Vogts ist in einer schwierigen Situation. Nach einer Nacht der Freude hat gestern die Vorbereitung auf das sonntägliche EM-Finale begonnen. EM- Finale? Naja, Sonntag muß noch einmal gespielt werden, gegen die Fußballer der tschechischen Republik. Das ist nicht einfach. Mit dem im Elfmeterschießen 6:5 gewonnenen Halbfinale gegen England hat die EM ihren Höhepunkt aller Wahrscheinlichkeit nach hinter sich.

Das deutsche Team und sein Trainer auch? „Die Mannschaft hat überhaupt keinen Druck mehr“, sagt Vogts, „und der Trainer auch nicht.“ Es ist klar, was Vogts meint: Er hat sein Soll erfüllt, was den nüchternen sportlichen Erfolg anbelangt, und nach der Nacht von Wembley nun auch, was das Schaffen von positiven Gefühlen im kollektiven Bewußtsein seines Landes betrifft.

Vogts ist ein Erfolgstrainer, sagt Vogts (49). Und sein Auftreten in diesen Londoner Tagen ist eine Aufforderung, dies nun endlich zu akzeptieren. „Ich glaube“, sagte er, „daß es das Beste überhaupt war, was eine deutsche Mannschaft in der Verlängerung gezeigt hat.“ Nun könnte man kleinlich sein, und damit kommen, daß es das Beste überhaupt war, weil die Deutschen trotz Vogts gewonnen haben. Das wäre nicht gerecht. Innerhalb der Fußball-Logik muß es allerdings erlaubt sein, darauf hinzuweisen, daß sich der Bundestrainer auch Mühe gab, das Spiel zu verlieren.

Dies tat er, indem er eine Defensivtaktik wählte, die an schrecklichste Beckenbauer-Zeiten erinnerte. Und natürlich, indem er den Spieler Andreas Möller in Abwesenheit Klinsmanns zum Spielführer machte. Es gab eine Szene von großer Symbolkraft. Als nach einer Stunde Paul Ince Richtung Tor gerannt kam, aber drübergeschoß, rannte der Libero Sammer richtig wütend bis zur Mittellinie. Soweit mußte er sprinten, um seines Kapitäns habhaft zu werden, der von dort zugesehen hatte, was Ince so unternahm. Körperlos und desorientiert inspirierte Möller das Team nicht, er deprimierte es meist. Er war der Ausgangspunkt für viele englische Angriffe. Kurz: Er spielte wie ein Verlierer.

Und doch: War es nicht er, der – gegen alle Logik – den entscheidenden sechsten Elfmeter verwandelte? „Als Nummer 6 habe ich zu Andreas Möller gesagt: Du schießt uns ins Finale“, sagte Berti Vogts. Er tat mehr: Er bereitete auch Kuntz' Ausgleichstor vor.

Was soll man sagen? Daß das Spiel in der Verlängerung großartig war, weil es sich gegen Vogts' Willen und Taktik selbständig gemacht hatte? „Wir sind sicherlich die Glücklicheren“, fand nicht als einziger der Torhüter Andreas Köpke. Doch Glück, das ist seit dem Kroatien-Spiel klar, wird vom Trainer nun als Charaktereigenschaft beansprucht. Der sagt, er habe „die Engländer selten so gut spielen sehen“. Und ohne Atem zu holen: „Trotzdem sind wir die verdienten Sieger.“

Die Männer, die zu preisen sind, heißen Matthias Sammer, Thomas Helmer, Dieter Eilts. Merkt einer was? Was Sammer organisierte, Eilts abgrätschte und Helmer trotz Verletzung abräumte, war in der Tat beeindruckend. „Helmer ist über seine Grenzen gegangen“, sagte Berti Vogts – und dies nennt er den „Charakter der Mannschaft“ im Zeitalter nach Matthäus.

Was ist Glück? Es war Vogts, der sich die Elfmeterschützen ausgeguckt hatte. Er wechselte extra noch den coolen Strunz ein, er bestimmte Möller. Berti Vogts, wer wagte es zu bezweifeln, hat alles richtig gemacht. Wie gesagt, eine Kleinigkeit fehlt noch: Der EM-Titel. Aber, sagt barsch der Bundestrainer: „Ich lasse mich nicht mehr unter Druck setzen.“ Innerhalb des DFB war er immer stark. Jetzt ist er dabei, auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu wachsen. Doch die Situation ist schwierig. Geht ihm am Sonntag das Glück aus, bleibt zwar der Charakter, doch dann wird Berti Vogts wieder nur ein abgebrochener Riese bleiben. pu