„In ihren Augen bin ich schon tot“

■ Ein ehemaliger Zeuge Jehovas hat sich vor einigen Jahren der Devotion, dem Wahlverbot und den Angstneurosen entzogen

Geburtstag zu feiern, ist eine „Selbstverherrlichung“. Überstunden zu machen, wird verpönt, weil dann die Zeit zum Predigen fehlt. Masturbation ist „Selbstvergötzung“, Fettleibigkeit ein „Mißbrauch des Körpers“, die Teilnahme an einer Beerdigung „geistige Hurerei“. Die Liste der verbotenen Tätigkeiten für die Zeugen Jehovas ist lang und apodiktisch. Dieser Druck hat einen Familienvater dazu veranlaßt, zusammen mit seiner Frau und den Kindern auszusteigen. Der Ehefrau zuliebe möchte er gerne anonym bleiben. Er war jedoch bereit, der taz die Gründe für seinen Entschluß zu nennen.

Sie sagen, Sie haben die Zeugen Jehovas verlassen, weil Sie Angst hatten. Wovor?

H.L.: Ich hatte Angst, weil ich mich nicht an die Weisung der Wachturmgesellschaft gehalten habe. Zeugen Jehovas dürfen zum Beispiel nicht wählen gehen. Da bekommt man aber doch Gewissensbisse: Ich bin ein Bürger dieses Landes, ich möchte wählen. Dann macht man's eben heimlich.

Angst hatte ich aber auch, als unsere Tochter geboren wurde. Sie war ein Problemkind und mußte nach der Geburt für ein Vierteljahr in die Kinderklinik und sollte Bluttransfusionen bekommen. Man müßte dann ja quasi sein Kind opfern, weil es bei den Zeugen Jehovas verboten ist, Blut in irgendeiner Form zu sich zu nehmen.

Mußten Sie Maßregelungen fürchten, als Sie die Verbote brachen?

Die Zeugen Jehovas oder genauer die Wachturmgesellschaft arbeitet mit dem sogenannten Konformitätsdruck. Konform denken und konform gehen ist ein und alles. Bei Zuwiderhandlungen wird mit dem Ausschluß aus der Gemeinschaft gedroht.

Mit dieser Drohung wurden auch Sie unter Druck gesetzt.

Ja, man hat sich ja vom Rest der Welt abgesondert. Einen guten Zeugen Jehovas erkennt man daran, wieviel Zeit er für die Wachturmgesellschaft einsetzt. Es heißt immer: Ein guter Zeuge Jehovas gibt Zeugnis ab. Und das heißt, nach draußen gehen und predigen. Man soll die anderen davon überzeugen, daß das, was die Wachturmgesellschaft schreibt, das einzig Wahre ist. Daß alle Kirchen und alle Glaubensorganisationen dieser Welt Lügner sind.

Haben Sie all diese Doktrinen als destruktiv empfunden?

Destruktiv insofern, weil man in seiner Persönlichkeitsentfaltung sehr abgeschnitten wird. Und ich gehe sogar so weit zu sagen, daß es bei jedem Zeugen Jehovas zu einer Persönlichkeitsveränderung kommt.

Die Sie auch an sich selbst beobachtet haben?

Ich war sehr devot. Man konnte mich kritisieren, ich habe alles über mich ergehen lassen. Man wird dazu geformt, ein eher introvertierter Mensch zu sein. Ich war selbst ein eher passiver als ein aktiver Mensch.

Wie haben Sie es denn dann geschafft, auszusteigen?

Ich bin einfach nicht mehr hingegangen. Dann kam der Ältestenrat zu mir und fragte, was los sei. Ich habe gesagt, ich möchte das nicht mehr. Dann wurde meine Frau bedrängt. Sie wüßte doch, was auf dem Spiel steht: Das Harmagedon kommt doch in Zukunft. Wir würden alle vernichtet werden. Unsere Kinder würden vernichtet werden. Ich habe mir dann sogenannte weltliche Freunde, also Andersgläubige gesucht. Dann habe ich auch mal ein Bier getrunken und geraucht, das war ja ganz verpönt. Nach einem Jahr bekam ich einen Brief von der Wachturmgesellschaft, daß mir die Gemeinschaft entzogen worden ist.

Welche Folgen hatte das?

Kein Zeuge Jehovas darf mich mehr grüßen oder mit mir sprechen. In ihren Augen bin ich schon tot.

Das haben Ihre früheren „Schwestern“ und „Brüder“ auch eingehalten?

Jaja, die Leute sind da konsequent. Nur innerhalb der Familie ist das natürlich sehr schwierig und sehr zermürbend. Das Interessante ist, daß meine Frau nie so ein Schreiben bekommen hat. Sie wartet da heute noch drauf. (Er lacht).

Wie hat sich Ihr Alltag nach dem Ausstieg verändert?

Ich mußte eine riesige Leere füllen. Mein Alltag war ja mit den vielen Jevohas-Terminen total verplant. Ich habe mir ein Hobby gesucht, mir einen Garten angeschafft. Man ist auch mal ins Kino gegangen, oder mal 14 Tage an die Adria gefahren, ohne gleich wie früher ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ja in der Ferienzeit immer die großen Kongresse stattfinden. Wir haben dann wieder gelernt, Geburtstag zu feiern, einen Weihnachtsbaum zu schmücken und uns gegenseitig Geschenke zu machen. Irgendwann haben wir uns dann nicht mehr als Außenseiter gefühlt. Aber meine Frau hat jetzt noch eine Angstneurose: Bei Naturkatastrophen fürchtet sie stets, das Ende der Zeit sei gekommen.

Fragen: Silvia Plahl