Keine Gefahr für Atatürks Erbe

■ Statt Verbalradikalismus gemäßigte Töne. Der Islamist Necmettin Erbakan, seit Samstag neuer Regierungschef der Türkei, arrangiert sich mit den "Knechten des Westens". Aus Istanbul Ömer Erzeren

Keine Gefahr für Atatürks Erbe

Ciller hat sich für die Finsternis entschieden.“ So titelte am Tag nach der Koalitionsbildung in Ankara die liberale Tageszeitung Yeni Yüzyil (Das neue Jahrhundert). Noch vor wenigen Monaten, in ihrer Funktion als Ministerpräsidentin, hatte Tansu Çiller öffentlich erklärt, jeder, der mit den Islamisten koaliere, führe das Land in die „Finsternis“.

Zum erstenmal in der 73jährigen Geschichte der türkischen Republik steht ein Islamist dem Kabinett in Ankara vor. Necmettin Erbakan, Vorsitzender der Wohlfahrtspartei, hat am Samstag die Amtsgeschäfte von Ministerpräsident Mesut Yilmaz übernommen. Er koaliert mit der liberalkonservativen Partei des rechten Weges von Exministerpräsidentin Tansu Çiller. Sie ist stellvertretende Ministerpräsidentin und Außenministerin im neuen Kabinett. Bei Entscheidungen, die der Ministerpräsident bislang allein treffen konnte, soll fortan auch die Billigung der stellvertretenden Ministerpräsidentin eingeholt werden. Darüber hinaus ist eine Rotation vorgesehen: Tansu Çiller soll nach der Hälfte der Amtszeit, in zwei Jahren, das Amt übernehmen.

In der Koalitionsvereinbarung ist von den radikalen Positionen Necmettin Erbakans und seiner Wohlfahrtspartei kaum noch etwas zu spüren. Beide Parteien teilten die Prinzipien des Republikgründers Atatürk und stünden auf dem Boden des „demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaates“, heißt es in der Vereinbarung. Die Koalition verpflichtet sich, alle internationalen Verträge und Abmachungen zu achten. Verstärkt würde sowohl die Kooperation mit den westlichen Ländern, als auch die mit der islamischen Welt, den zentralasiatischen Turkrepubliken und dem Balkan.

Der Verbalradikalismus Erbakans, nach dem der Vertrag über die Zollunion zwischen der Europäischen Union und der Türkei, der Anfang dieses Jahres in Kraft trat, zerrissen gehöre, scheint vergessen. Necmettin Erbakan, der in Interviews die terroristischen Aktionen der Hamas rechtfertigt, hat selbst seine herbe Kritik an dem israelisch-türkischen Militärpakt beiseite gelegt. Und auch die unter Federführung der Vereinigten Staaten seit dem Golfkrieg in der Türkei stationierten Einsatztruppen zum Schutz der irakischen Kurden – gegen die sich Erbakan wegen „Verletzung von türkischen Souverinätsrechten“ aussprach – werden wohl bleiben. Sogar von den eigenwilligen wirtschaftspolitischen Vorstellungen Erbakans, der vom „islamischen Dinar“ in Konkurrenz zum Euro und der „gerechten, islamischen Ordnung“ mit Zinsverbot sprach, findet sich nichts in dem Koalitionspapier.

Die harte Kurdistanpolitik, die in den vergangenen Jahren zur Folge hatte, daß Millionen kurdischer Zivilisten aus ihrer Heimat vertrieben wurden und die über 20.000 Menschen das Leben kostete, wird fortgesetzt. Kein Dialog mit den Kurden, sondern die militärische „Lösung“ ist angesagt. In der Vereinbarung finden sich die üblichen Formulierungen, die jede Kritik an der Kurdistanpolitik verbieten. „Der vom Ausland unterstützte seperatistische Terror bedroht unsere innere Sicherheit. Die geistige und psychologische Ebene der Bekämpfung des Terrorismus darf nicht vernachlässigt werden, und es darf nicht zugelassen werden, daß die Sicherheitskräfte, die diesen Kampf führen, durch Diskussionen geschwächt werden.“ Offenkundig war Erbakan jede Konzession recht, um Ministerpräsident zu werden.

Die Partei des rechten Weges und die Wohlfahrtspartei teilen sich je 18 Ministerien im Kabinett. Politisch sensible Ministerien sind von Parteigängern Tansu Çillers besetzt. Der Innenminister, der Verteidigungsminister und der Erziehungsminister gehören der Partei des rechten Weges an. Somit ist Ministerpräsident Erbakan das einzige Kabinettsmitglied, das dem „Nationalen Sicherheitsrat“ angehört – einer Art türkischen Schattenkabinetts, in dem die führenden Generäle und Politiker die Richtlinien der „Sicherheitspolitik“ absprechen.

Innenminister wird der unter der Regierung Mesut Yilmaz als Justizminister amtierende Mehmet Agar, einstiger Polizeipräsident und von türkischen Menschenrechtsorganisationen als „Folterknecht“ angesehen. Agar, in dessen Amtszeit die Folter auf den Polizeiwachen und die Morde der Todesschwadronen zunahmen, werden Beziehungen zur türkischen Mafia unterstellt. Während die „Falken“ in Tansu Çillers Partei des rechten Weges im Kabinett dominieren, wurde offensichtlich darauf geachtet, keine Abgeordneten vom extremen Flügel der Wohlfahrtspartei in das Kabinett aufzunehmen.

Innerparteilich einflußreiche Abgeordnete wie Oguzhan Asiltürk und der ehemalige Bürgermeister der zentralanatolischen Stadt Sivas, Temel Karamollaoglu, fehlen. Karamollaoglu spielte vor drei Jahren eine zentrale Rolle bei der von den Islamisten aufgeheizten Pogromstimmung gegen türkische Intellektuelle. Bei der Brandstiftung in einem Hotel in Sivas waren 37 Menschen ums Leben gekommen.

Die auflagenstarke Tageszeitung Hürriyet berichtet, die Koalitionspartner Necmettin Erbakan und Tansu Çiller hätten ein Geheimabkommen vereinbart. Demnach sollen die Schmiergeldvorwürfe gegen Exministerpräsidentin Tansu Çiller, die Gegenstand eines parlamentarischen Ermittlungsausschusses sind, niedergeschlagen werden. Die Wohlfahrtspartei hatte die Einrichtung des Ermittlungsausschusses betrieben.

Im Gegenzug sollen die Verfahren wegen illegaler Geldbeschaffung durch die Wohlfahrtspartei niedergeschlagen werden. Der Chef der „schwarzen Kasse“ der Erbakan-Partei, Süleyman Mercümek, war im Zusammenhang mit der Unterschlagung von Bosnien- Spendengeldern gerichtlich belangt worden.