Winzige emotionale Stromstöße

■ Auf den Spuren von Maitre Duchamp: Schwerin zeigt sechs KünstlerInnen, die vage das Landeskürzel „M-V“ verbindet

In „Lawrence of Arabia“ sieht man einen Mann im milden Strudel des Treibsandes versinken, und die Davongekommenen stehen fassungslos dabei. Ausgewählte kommen davon – das Prinzip ist rein aleatorisch. Ebenso scheinen die Titel für Gruppenausstellungen vom Zufall bestimmt zu sein. „Treibsand“ besetze ich automatisch negativ und assoziiere voreingenommen eine bedrohliche Fallgrube mit meiner Reise ins Mecklenburgisch-Vorpommersche. „M-V“ kürzt der Katalog dieses geographische Gebiet kryptisch ab und verspricht „Treibsand“ als Metapher für „räumliche und zeitliche Bewegung, die Formierung neuer Konstellationen ...“

In den achtziger Jahren konnte sich Schwerin eines brillanten, innovativen Schauspiels (Mecklenburgisches Staatstheater) unter der Ägide Christoph Schroths rühmen. Das sechsstündige „Faust I und II“-Marathon und die „Dreigroschenoper“ im Marstall gehören zu den bleibenden Erinnerungen. Daß es heute stiller um Schwerin als Kunststadt geworden ist, mag daran liegen, daß die Autobahn zur vollwertigen Transitstrecke zwischen zwei Metropolen geworden ist. Schwerin liegt am Wegesrand.

Das Staatliche Museum thront über einer majestätischen Freitreppe, und als wolle es sich für diesen Anachronismus entschuldigen, verweist im Foyer eine Tafel darauf, daß hier ein Forschungszentrum „Marcel Duchamp“ entstanden sei. Wie sollte da für junge Kunst (die für Kurator Gerhard Graulich beim Geburtsjahr 1947 beginnt) kein Platz sein? Ein großer Teil des geräumigen Untergeschosses dient so den sechs KünstlerInnen der Schau. Drei von ihnen teilen sich einen Saal, in dem Stellwandparzellen an Messeboxen erinnern. Unwillkürlich reflektiert man Quadratmeterpreise und gelangt an Arbeiten von Sonja Rolfs (Jg. 1948) oder Adolf Heth (Jg. 1947) vorbei zu Dagmar Demmings Klanginstallation „Grundgeräusch Mutter und Vater“. Die Aufnahmen von 120 Stimmen werden von einem Zufallsprogramm auf 22 von der Decke herabhängende Lautsprecher dirigiert. Durch die Begehbarkeit der Situation entsteht ein akustisches Labyrinth. Unerwartet trifft eine Stimme ganz nah, eine andere schwach: „Mama ... Axel ... Vater ...“ Ein scheinbar beziehungsloses Geflecht verteilt winzige emotionale Stromstöße. Die Wandelbarkeit und Konsequenz der in Los Angeles lebenden, 1951 in Greifswald geborenen Demming war bereits 1995 in der Ausstellung „all work no play“ im Dresdner Festspielhaus Hellerau überzeugend, als sie ihr mehrtägiges „work in progress“ einer Art „temporärer Architektur“ widmete.

Eine Architektur von erschlagender Dimension hat dagegen der aus Leipzig stammende Jörg Herold verwirklicht. Zwischen den zierlichen Metallsäulchen in seinem Raum liegt im Halbdunkel ein mit Wasser gefülltes Holzobjekt reglos wie ein gestrandeter Wal. Durch eine Glühbirne zeichnen sich zitternde Reflexionen an die Decke. Dieses „Mahnmal für einen Matrosen“ versucht die Annäherung an eine Tragödie des Zweiten Weltkriegs, bei der vier Schiffe mit insgesamt über 10.000 Flüchtlingen versenkt worden waren. Herolds stummes Monument ist Bestandteil des Projektes „Überfahrt“ und wurde 1995 bereits am Strand von Gomera errichtet. Das Wasser des Meeres schwappt zumindest thematisch über zu Michael Wirkners Gemäldezyklus „Wintermeer“, eine Hommage an das ständig wechselnde Antlitz der See.

Die statistische Überpräsenz von Neusiedlern beziehungsweise Weggezogenen und die merkliche Kluft zwischen den einzelnen Ansätzen lassen den Verdacht aufkommen, in einem eher dünnbesiedelten Landstrich sei auch das künstlerische Treiben schwächer verbreitet. Es kann hier also nicht um eine Standortbestimmung der „M-V Szene“ gehen. Die Kriterien der Auswahl für „Treibsand“ zeigen sich weder lokal, zeitlich, konzeptuell noch qualitativ einheitlich. Inhomogenität versagt hier als Garant für Spannnung und dient mehr als Folie für Einzelarbeiten wie beispielsweise die des Exildresdners Hendrik Silbermann. Unter Einbeziehung eines Renaissance-Altars lädt er zu mehr als einem Picknick ein: „Biwak am Kraterrand“ heißen seine zwei Räume. Silbermanns Assemblagekästen, die oft von einer stillen Existenz- oder Zivilisationsnot gespeist werden, legen bei diesem „Biwak“ auch einen vorsichtigen „Tanz auf dem Vulkan“ nahe. Mit seinen kleinen „Wunderkammern“ (die neuerdings Kreuzform annehmen) und Environments kann er fast spielerisch höchste Beklemmung verursachen. Wohlstandsmüll (die verkrüppelte Barbiepuppe, der Flamingo aus dem Blumengesteck) wird zur Ikone. Daß dabei ein beziehungsreicher Umweg über Maitre Duchamp ins Schweriner Museum führte, bleibt offenes Geheimnis. Susanne Altmann

„Treibsand“, bis 7. Juli im Staatlichen Museum Schwerin. Der Katalog kostet 28 DM