Jelzin ist der Favorit der „Stichwahl“ in Berlin

■ Bei der zweiten Wahlrunde antikommunistische Stimmung in der russischen Botschaft. „Wahlmüdigkeit“ und Arbeitstag sorgten für geringere Teilnahme

„Siebzig Jahre Kommunismus, alles weg, Kirche weg...“ Deshalb stimmt der ergraute Russe, der seit neun Jahren in Berlin ansässig ist, ohne Zögern für Jelzin. Der lasse wieder Kirchen bauen.

Auch ein siebzigjähriges Ehepaar ist in die russische Botschaft Unter den Linden gekommen, um sich an der Stichwahl zwischen den Präsidentschaftskandidaten Boris Jelzin und Gennadi Sjuganow zu beteiligen. Zwar hat das Ehepaar St. Petersburg hinter sich gelassen und wohnt jetzt in einem Berliner Aussiedlerheim. Das Kreuz auf dem Stimmzettel für Jelzin soll jedoch die demokratische Entwicklung Rußlands unterstützen. „Jelzin wird bestimmt gewinnen.“

Die Wahlmöglichkeit in Berlin wird zum Erlebnis: Ein Foto, einmal nicht am Brandenburger Tor, sondern vor der Wahlurne aufgenommen, zeigt den zwanzigjährigen St. Petersburger Pädagogikstudenten auf seiner Studienreise in Berlin. Die Jugend in Rußland sei progressiv eingestellt, gibt er offen und ehrlich Auskunft. Er persönlich stimme für Jelzin, bei seinen Studienkollegen sei das ähnlich. Nur die Lehrerin, sagt er verhalten, sei für Sjuganow.

Über 8.000 in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt registrierte Russen können in der Botschaft unter den Linden ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen. Hinzu kommt eine nicht einschätzbare Zahl von Touristen und Geschäftsleuten, die sich am Wahltag in Berlin aufhalten.

Anatoli Iwanow, Botschaftsrat und Wahlleiter, gibt nur vorsichtige Prognosen: Da die Wahl auf einen Arbeitstag falle und die Russen inzwischen „wahlmüde“ seien, werde die Stichwahlbeteiligung wohl nicht so hoch sein wie beim ersten Wahlgang am 16. Juni. Damals hatten von 3.000 Wählern 70 Prozent für Jelzin gestimmt. Iwanow glaubt, daß es in Berlin eine Mehrheit für Jelzin geben werde. Schließlich seien bestimmte reformwillige Wählergruppen hier ansässig. Isabel Fannrich