Judenhetze und Pogromstimmung: in Polen ein Tabu

■ Ungezählt sind in Polen die Morde an den aus den Lagern zurückgekehrten Juden

Jüdische Literatur in allen Buchhandlungen. Jüdische Forschungen an allen Hochschulen. Klezmermusik in vielen Restaurants. Dutzende von koscheren Cafés, die alle „Ariel“ heißen, in Warschau und Krakau. Koscheren Schnaps gibt es an allen Ecken, auf Jüdisches spezialisierte Reisebüros in jeder großen Stadt. In Polen blüht seit einigen Jahren eine jüdische Kultur ohne Juden. Das ist die philosemitische Variante. Auf der einen Seite schick und devisenträchtig. Aber auf der anderen Seite bewußtseinsbildend. Voraussetzung für den Schmerz, daß die große polnisch-jüdische Vorkriegskultur vernichtet ist.

Dann gibt es aber noch die anderen Varianten. Den Antisemitismus ohne Juden und die im gesamten postkommunistischen Raum virulenten Schutzbehauptungen: Die Juden sind an ihrem Unglück selber schuld, oder der Geheimdienst, für den viele Juden nach Kriegsende arbeiteten, habe Pogrome inszeniert, um den Terror gegen Polen rechtfertigen zu können. Solche durch nichts bewiesene Behauptungen begleiten auch die Gedenkfeiern in Kielce. Aber selbst wenn man die jetzt erstmals stattfindenden Gedenkfeiern positiv würdigt – sie täuschen nicht darüber hinweg, daß das Kapitel polnische Judenhetze und Judenmorde nach 1945 immer noch zu den tabuisiertesten Themen überhaupt gehört. Denn das Pogrom in Kielce war kein Einzelfall.

In Krakau wurden im Mai 1945 aus den Konzentrationslagern zurückkehrende Juden erschlagen, weil sie ihre Wohnungen wieder betreten wollten. Es war das erste, ganz offene Pogrom nach Kriegsende. Luis Begley erwähnt es in seinem Roman „Lügen in Zeiten des Krieges“. In ganz Krakau ist darüber nichts zu lesen, auch nicht im Jüdischen Dokumentationszentrum. Pogrome fanden ebenfalls schon Monate vor den Ereignissen in Kielce, in Parzewo, Czestochowa, Radom, Ostrowiec statt. Verschwiegen wird auch, daß die ultranationalistischen „Nationalen Streitkräfte (NSZ)“ Züge mit 1945 aus der Sowjetunion repatriierten Juden angriffen und dabei 200 Menschen töteten. Sie ermordeten 1945 und 1946 auch Polen, die Juden während des Krieges versteckt hatten – vorzugsweise die Helfer der Organisation ZEGOTA, der Tausende von Juden ihr Leben verdanken. Die NSZ ist heute noch aktiv, wenn es darum geht, Auschwitz zu einer Stätte rein polnischen Märtyriums umzudeuten.

Und ungezählt sind die vielen Morde aus Habgier an den aus den Wäldern in die polnischen Dörfer zurückgekehrten jüdischen Flüchtlingen. Denn sie hatten manchmal Vieh dabei, was die von der Wehrmacht ausgeplünderten Polen nicht mehr besaßen. So erschlug unmittelbar nach Kriegsende in dem Dorf Dobre (50 Kilometer vor Warschau) ein Bauer den Vater des später nach Amerika emigrierten Schriftstellers Henryk Grynberg, weil er drei Kühe hatte. Der polnische Regisseur Pawel Lozinski recherchierte diesen Mord für seine Dokumentation „Der Platz, an dem ich geboren bin“ und fand einen Augenzeugen. Seitdem der Film 1994 bei arte und in einer entschärften Fassung auch in Polen gezeigt wurde, schweigt der Augenzeuge. Er wurde im Dorf unter Druck gesetzt. Bis heute hat die Staatsanwaltschaft kein Ermittlungsverfahren eingeleitet, obwohl der Mörder sich bester Gesundheit erfreut.

Insgesamt wurden von Ende 1944 bis Sommer 1946 zwischen 1.500 und 2.000 Juden umgebracht. Der polnische Historiker Piotr Olszowka berichtet in einem Aufsatz über den Antisemitismus in Osteuropa, daß das Pogrom in Kielce Schatten warf auf ganz Zentralpolen. Die am meisten bedrohten Städte, wo im Juli 1946 jederzeit ein antisemitischer Aufruhr erwartet wurde, waren Radom, Bialobrzegi, Ostrowiec, Swietokrzyski, Czestochowa, Lodz, Skarysko-Kamienna, Starachowice und Pionki. Nachdem neun Teilnehmer des Kielcer Massakers am 11. Juli 1946 zum Tode verurteilt wurden, begannen hier überall Proteststreiks. In Lodz stellten die Textilarbeiter ihre Arbeit ein, in Radom die Eisenbahner. Überall wurde behauptet, was viele heute noch sagen: daß entweder reaktionäre Banden oder die Zionisten (zeitweise paradoxerweise ein Synonym für Kommunisten) es inszenierten, um eine Auswanderungswelle in Gang zu setzen.

Die gab es auch. Ab Juli 1946 flüchteten über hunderttausend Juden aus ganz Polen in die Lager für „Displaced Persons“ nach Frankfurt-Zeilsheim, Fürstenwalde oder Landsberg. Alle wollten sie über Deutschland nach Palästina oder Amerika. Einige von ihnen werden jetzt Kielce zum erstenmal seit 50 Jahren betreten. Auf dem Weg dorthin werden sie lesen, daß vor vier Tagen der jüdische Friedhof in Warschau geschändet wurde. 66 Gräber sind zerstört. Am Tatort fand die Polizei Hinweise: Rache für Kielce. Anita Kugler