Mord als Revolte

Zwei Krimis appellieren an die Gemeinschaft: „Die Schandmaske“ von Minette Walters und P. D. James' „Wer sein Haus auf Sünden baut“  ■ Von Anke Westphal

Die allgemeine Passion für Gerechtigkeit komme ihr langweilig und künstlich vor, denn weder das Leben noch die Natur kümmerten sich im mindesten darum, ob der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Recht hatte Patricia Highsmith mit ihrem Unbehagen, das sie 1966 in ihrem kleinen Werkstattbuch über „Suspense“ beschrieb. Verbrecher waren für Highsmith von dramatischem Interesse, „weil sie wenigstens eine Zeitlang aktiv und im Geist frei sind und sich von niemandem unterjochen lassen“. Diese Auflehnung gegen zivilisatorische Regulationsmechanismen ist ein zentrales Thema des modernen Krimis.

P. D. James, 76 Jahre, macht in „Wer sein Haus auf Sünden baut“ einen renommierten Londoner Verlag zum Sündenbabel. Die im Innocent House (sprechender Name) ansässige Peverell Press soll von einem neuen Chef mit eiserner Hand modernisiert werden – klar, daß der Mann sich Todfeinde macht. Unzählige Tatmotive, aber auch unzählige sich der Autorin bietende Gelegenheiten, über Tradition und Moderne, über Medien und Moral zu sinnieren. Anders als P. D. James, die ihren melancholischen Inspektor und Freizeitpoeten Adam Daglish ausschickt, das Böse zu bannen, benötigt Minette Walters für ihre Krimis weder männliche noch weibliche Helden und auch nicht unbedingt Erlösung – das Leben hat schließlich auch keine zu bieten. Kriminalromane, so äußerte Minette Walters 1995, seien eine Möglichkeit, über Konflikte zu schreiben, und das tue sie nun einmal gern. „Mord ist die extremste, dramatischste Form der Selbstverteidigung“, sagte Walters auch. Die sechsundvierzigjährige Autorin, deren eigentliche Profession ganz nach Wertschätzung mal mit Literaturwissenschaftlerin, mal mit Journalistin angegeben wird, recherchiert einmal die Woche im Gefängnis von Winchester. Walters nutzt die authentischen Geschichten wegen ihrer mangelnden Dramatik dann aber doch nicht.

Auch ihre „Schandmaske“, eine Geschichte um vier Frauen und den Mord an der ältesten, ist ein sehr geometrisches, mit Shakespeare-Anspielungen gespicktes Konstrukt, das die Abhängigkeiten dreier Generationen einer Familie voneinander durchexerziert.

Mathilda Gillespie wird mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne gefunden, auf dem Kopf eine mit Brennesseln und Maßliebchen geschmückte mittelalterliche Schandmaske. Ihr Vermögen hat „die böse Zunge“, wie sie genannt wurde, perfiderweise nicht Tochter oder Enkelin, sondern ihrer Ärztin Sarah Blakeley hinterlassen. Minette Walters läßt Mathilda, Joanna, Ruth und Dr. Blakeley in einem allmählich enger werdenden Netz aus Argwohn, Verdächtigungen, Aggressionen und zunehmender Einsamkeit zappeln – ein Zentrum des Hasses. Nicht der Mord, den sie nur als Exposition benutzt, oder die Frage des Whodunit interessieren Walters, sondern die Genese eines Konfliktes, „die Wahrheit hinter dem Offensichtlichen“. Nur: Eine einzige Wahrheit gibt es nicht.

Mathildas Tagebücher hätte sie vielleicht offenbaren können, doch sie bleiben verschwunden. „Die Schandmaske“ ist denn auch eher eine Abhandlung über verbale Manipulationen als ein Krimi und als solche wirklich spannend nur für ein Publikum mit ausgeprägtem Faible für Reflexionen. Walters läßt in den Gesprächen zwischen ihren Figuren bis weit über die Hälfte des Buchs deren Verdrängungsstrategien durchscheinen und entfernt sich dabei immer weiter vom Plot. Dann endlich ruft das Gewissen (wessen wohl? – doch dazu gleich), und es ruft nach guten Taten. Immanuel Kants kategorischer Imperativ und das Lessingsche Toleranz- und Erziehungsideal sind interessanterweise – denn andere Kriminalromane kommen gut ohne so was aus – das philosophische Gerüst von Walters' neuem und drittem Bestseller. Detective Sergeant Cooper, ein bis an den Rand der Unprofessionalität undistanzierter Polizist, krempelt durch ein paar gut plazierte pädagogische Anmerkungen Mathildas fehlsozialisierte Enkelin Ruth um – ach, hätte Ruth doch Liebe statt Geld erfahren. Auch Jack Blakeley, ein verkannter Künstler, der seine – ihn ernährende – Frau liebt und es nur nicht so recht zeigen kann (bekannt), beteiligt sich an diesem Erziehungsprozeß, der folgerichtig seine eigene Selbsterziehung begleitet. Jack solidarisiert sich therapeutisch mit den Schwachen, übernimmt Verantwortung und bringt Ruth bei, wie eine Frau die Männer am besten nimmt, ohne allzuviel Schaden davonzutragen. Der Grund für den Mord an Mathilda Gillespie ist dann von einer Banalität, die wieder ganz Alltag ist.

Ähnlich wie bei P. D. James' Krimis fällt es bei Walters' „Schandmaske“ ausgesprochen schwer zu entscheiden, wo die zur psychologischen Kennzeichnung der Figuren notwendigen Reflexionen enden und wo der soziopsychologische Bekenntnisdrang der Autorin beginnt. P. D. James gelang es, ihren letzten Bestseller „Wer sein Haus auf Sünden baut“ auf 604 Seiten aufzupumpen – da paßt schon allerhand rein über die Welt im allgemeinen und besonderen.

Ein bißchen erinnern diese psychologischen Krimis an die Oper: Zuviel Kommentar geht immer zu Lasten der Handlung, aber schließlich sind es die Arien und nicht die Rezitative, die der Opernfreund liebt. Minette Walters' „Schandmaske“ ist von P. D. James' großer moralischer Ansprache nur zweihundert schmale Seiten entfernt. Mit Logik und Indizien hält sich Walters jedoch noch weniger als P. D. James auf. Die grundsätzlichen Ausführungen ihrer Sarah Blakeley über die Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft, Verantwortung gegenüber der Jugend, über Schwangerschaftsabbruch, Drogensucht, ärztliche Verantwortung, Dorf- und Notgemeinschaften könnte man, mit einem geläufigen Ausdruck aus der Philosophie „kommunitaristisch“ nennen. Minette Walters und P. D. James mögen keine neokonservativen Krimiautorinnen sein, aber sie sind sehr altmodische: Beide besetzen den Begriff der Aufklärung wie gehabt, und die von ihnen beschriebenen Ichs stellen in starkem Maße eine Funktion von Welt dar. Und auch das würde Patricia Highsmith langweilen.

Minette Walters: „Die Schandmaske“. Aus dem Englischen von Mechthild Sandberg-Ciletti. Goldmann Verlag, 408 Seiten, gebunden, 39,80 DM

P. D. James: „Wer sein Haus auf Sünden baut“. Aus dem Englischen von Christa E. Seibicke. Verlag Droemer Knaur, 604 Seiten, gebunden, 44 DM

Patricia Highsmith: „Suspense“. Aus dem Amerikanischen von Anna Uhde. Diogenes Verlag, 131 Seiten, brosch., 14,80 DM