Eine Stadt will es nicht wissen

Das Brandhaus steht offen, den Überlebenden des Anschlags droht die Abschiebung, Safwan Eid soll vor Gericht: Nur unwillig erkennt Lübeck, daß die Suche nach den Mördern von zehn Flüchtlingen weitergehen muß  ■ Von Bascha Mika

Das Haus wartet darauf, daß jemand einsteigt. Die zwei Meter hohen Absperrgitter hindern niemanden. Wo sie auf den Zaun des Nachbargrundstücks treffen, klafft eine 80 Zentimeter breite Lücke. „Polizeiabsperrung“ steht auf dem rotweißen Plastikband, das irgendwann einmal den Durchgang versperrte. Jetzt hängt es in Fetzen. Fünf, sechs Meter durch den Garten, vorbei an der Birke, von deren Äste die Reste einer Wäscheleine baumeln, bis zu einem der Fenster im Erdgeschoß – es steht sperrangelweit offen.

In diesem Haus erstickten, verbrannten, verkohlten zehn Menschen. Kinder und Erwachsene. Dieses Haus ist ein Beweisstück.

Noch weiß niemand, wer das Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße angezündet hat, wer am 18. Januar dieses Jahres das Feuer legte. Die Untersuchung läuft. Es gibt mehrere, widersprüchliche Brandgutachten – und noch keinen Täter. Der junge Libanese Safwan Eid, den die Staatsanwaltschaft ein knappes halbes Jahr als mutmaßlichen Mordbrenner in Haft hielt, ist wieder frei. Kein „dringender Tatverdacht“, stellte die Jugendkammer des Lübecker Landgerichts am letzten Dienstag fest.

Doch der Tatort, den Polizei und Staatsanwaltschaft so lange sichern müßten, bis alle Untersuchungen abgeschlossen sind, ist ein offenes Haus. Nur zur Straße sind die Fenster mit Holzplatten verrammelt. Von der Gartenseite kann jeder rein, Spuren legen, verwischen, vernichten.

Will diese Stadt wirklich wissen, wer es war?

Auf einem der weich-bräunlichen Sofas im Erdgeschoß, dem offen Fenster direkt gegenüber, wollte es jemand wissen. Eine dicke, saubere Decke liegt quer über die Sitzfläche gebreitet, auf der Armlehne kringelt sich ein lavendelfarbener BH, Körbchengröße 3. Der wurde nicht vor mehreren Monaten hier abgelegt.

Tapetenfetzen bedecken den Boden, Brocken von Putz und geborstene Möbel, dazwischen eine zerknüllte Packung Aspirin, eine kleine Holzlok mit roten Rädern, umgekippt. Auf einer Matratze sind ein Schimpanse, zwei Teddys und eine Giraffe ineinander verkrallt, ihr Plüsch verfilzt und stockig. Hier im unteren Stock hat das Feuer kaum Schaden angerichtet – es war das Wasser. Zentimeterdick kriecht graugrüner Schimmel die Wände hinunter.

Vom Hausflur aus sieht man direkt in den Himmel, die Treppe zum ersten Stock ist aus Stein, die Treppe zum zweiten gibt es nicht mehr. Sie war aus Holz. Gleich links im Zimmer des ersten Stocks steht ein kaum beschädigter Wohnzimmerschrank. Darin ordentlich aufgereiht zehn Aktenorder: „Telekom“, „Wohnungsamt“, „Arbeitsamt“ ... Ein Hefter mit Kontoauszügen der Lübecker Sparkasse daneben, der letzte vom 2. 12. 1995. Persönliche Papiere der Familie Eid, die früher hier wohnte. Kein Feuerwehrmann, kein Polizist, kein Sachverständiger hat die Unterlagen sichergestellt und den libanesischen Brandopfern zurückgegeben.

Innerhalb einer halben Stunde sind mindestens zehn Fußgänger am Brandhaus vorbeigeschlendert, halb neugierig, halb angegruselt haben sie herübergespäht. Alle haben den Eindringling gesehen. Nur fünfzig Meter weiter steht eine Telefonzelle. Niemand hat die Polizei gerufen. Sie wollen es nicht wissen.

„Die dachten in Lübeck doch alle, na ja, viele dachten doch: Laß es mal den Libanesen sein. Dann ist das vom Tisch, und wir ham unsere Ruhe.“ Der Imbiß, nur einen Steinwurf vom ehemaligen Flüchtlingsheim entfernt, hat keinen Namen. Die Blonde, die Mayonnaise aus einer weißlich-gelben Tube auf eine Portion Pommes quetscht und schimpft, hat immerhin einen Vornamen: Marianne. Marianne wußte, wer von den Bewohnern der Hafenstraße 52 lieber Currywurst und wer Bratfisch aß. Und die Kinder der Flüchtlinge – „Standen immer da, wie die Orgelpfeifen mit diesen abstehenden Negerzöpfchen“ – haben ihr solange Kaugummis abgeluchst, bis sie sie alle kannte: Doni und Maradona und den kleinen Schreihals, den sie „Sirene“ taufte. „Kannst mich totschlagen“, brummt Marianne, „aber ich glaub nicht, daß es der Safwan Eid war. Gut, daß er endlich frei ist.“ Sie schüttelt den Kopf und die Mayonnaisetube schüttelt sie gleich mit. „Der steckt doch nicht seine eigene Sippe an. Sie wollten einfach, daß es einer war.“

Sie wollten es nicht wissen.

Selbst die Monopolzeitung dieser Stadt, die sich durch zwei Synagogenbrände „stigmatisiert“ fühlt, machte sich vordringlich Gedanken um das Ansehen des Ortes. Von „irreparablem Schaden für die Hansestadt“ sprach der stellvertretende Chefredakteur der Lübecker Nachrichten bereits vier Tage nach der Katastrophe, von „vorschneller und unverantwortlicher Schuldzuweisung“. Denn da hatte jemand tatsächlich was wissen wollen: Der Bürgermeister der Stadt hatte angesprochen, was nach Rostock und Mölln, Hünxe und Solingen hätte möglich sein können – und noch immer möglich ist: daß es ein Anschlag von Rechtsradikalen war.

Wie haben sie alle aufgeatmet, diese Sorte Lübecker, als Safwan Eid verhaftet wurde. Keiner von uns! Einer von denen! „Trotz des schlimmen Geschehens gibt es eine gewisse Erleichterung, daß nach dem jetzigen Ermittlungsstand ein rechtsradikaler Anschlag ausgeschlossen werden kann“, frohlockte Hans-Jochen Arndt, Sprecher der Industrie- und Handelskammer am 22. Januar. Seit vier Tagen ist alles anders. Safwan Eid ist zwar noch immer beschuldigt, aber auf freiem Fuß, die Rechtsradikalen sind erneut stark verdächtig. Und was sagt Arndt? „Ich glaube nicht, daß sich etwas Entscheidendes geändert hat.“

Das behaupten auch die Lübecker Nachrichten. Nach Eids Verhaftung versuchte die Zeitung ihren LeserInnen mit fünf Fragen – die sie gleich selbst beantwortete – klarzumachen, warum der Libanese und nur der Libanese der Täter sein müsse. Frage: „Warum hat sich der mutmaßliche Täter nach der Brandstiftung schlafen gelegt?“ Antwort: „... Man habe ihn wecken müssen, berichteten Familienmitglieder. Reine Spekulation: Der Mann kann sich auch schlafend gestellt haben.“ Aus dem Hinweis der Flüchtlinge, daß ihr Haus schon früher mit Brandsätzen angegriffen worden sei, machten die LN am 26. 1. 96 die Nachricht: „Bewohner des Lübecker Asylheimes ... haben offenbar schon in der Vergangenheit gezündelt.“ Was sagt das Blatt heute dazu? Die Vertreterin des Chefredakteurs: „Wir haben kein Wort von unserer Berichterstattung zurückzunehmen.“ Sie wollen es nicht anders wissen.

Sind höchstens verärgert, daß wieder alles so unklar ist. „Es gibt eine allgemeine Unzufriedenheit, daß wieder alles im luftleeren Raum ist“, meint Hans-Lothar Fauth. Fauth ist Präsident des Roten Kreuzes und damit Vorgesetzter, der beiden Rettungssanitäter Jens L. und Mathias H. Ersterer ist Hauptbelastungszeuge gegen Eid, der zweite sein Freund, der wegen angeblicher rechter Umtriebe ins Zwielicht geraten ist. „Völlig unauffällige Jungs“, sagt Fauth. Auch der Malteser Hilfsdienst, bei dem Mathias H. in den achtziger Jahren beschäftigt war, hätte diesem „ein gutes Zeugnis“ ausgestellt.

„Die Wahrheit“, sagt Bürgermeister Michael Bouteiller, „ist nicht allein im Srafprozeß aufgehoben. Die Wahrheit für die Stadt“, fügt er in seiner volkspädagogischen Art hinzu, „ist, wie wir insgesamt mit den Flüchtlingen umgehen.“ Wachhalten müsse man diesen Gedanken. Deshalb wäre es „das Schlimmste, wenn das Verfahren eingestellt würde, wenn man glaubt, seinen Frieden machen zu können, weil man den Täter nicht ermitteln kann“.

Oder weil ihm nichts mehr zu beweisen ist. Genausowenig, wie sich Polizei und Staatsanwaltschaft um die Sicherung des Tatorts kümmern, wie sie sogar riskieren, daß das Haus demnächst abgerissen wird, genausowenig sorgen sie dafür, daß ihnen die Zeugen nicht abhanden kommen. Mindestens 17 ehemalige BewohnerInnen der Hafenstraße sind von Abschiebung noch in diesem Jahr bedroht. Nur bis zum 8. November hat Bürgermeister Bouteiller für sie einen Aufschub bei der Ausländerbehörde erwirkt. Selbst die Familie Eid und ihr weiterhin beschuldigter Sohn Safwan sollen am 8. November die Bundesrepublik verlassen. „Das Gericht sorgt mit Sicherheit nicht dafür, daß die Zeugen im Land bleiben“, sagt Ingrid Behrendt von der Jugendkammer, „es gibt keine gesetzliche Handhabe. Aber“, fügt sie hinzu, und klingt dabei tatsächlich nicht zynisch, „wir hoffen, daß die Ausländerbehörde darauf Rücksicht nimmt.“

Will hier überhaupt noch jemand etwas wissen?

Fast alle Brandopfern aus der Hafenstraße, hat Bürgermeister Bouteiller gemeinsam mit dem diakonischen Werk in Privatwohnungen untergebracht. Das hatte er nach der Brandnacht versprochen. Kibolo Katuta ist einer von ihnen. Mit seiner Frau und der kleinen Tochter lebt der Schwarze aus Zaire in einer frisch renovierten Wohnung, mitten in der Stadt. „Sicher“ fühlt er sich hier. „Hier gibt es schnelle Hilfe und keine Angst.“ Safwan Eid erhält von Katuta das beste Leumundszeugnis aus. „Vielleicht waren es die Rechten aus Grevesmühlen“, überlegt er, „vielleicht auch nicht. Das muß man doch herausfinden.“

Aber wer?

Die Staatsanwaltschaft sieht offenbar keinen „Handlungsbedarf“. Oberstaatsanwalt Klaus- Dieter Schultz ist einstweilen für niemanden zu sprechen. Von seiten des Gerichts besteht kein dringender Tatverdacht gegen Eid mehr, aber noch ein hinreichender: Seit gestern ist bekannt, daß die Jugendstrafkammer „demnächst“ das Hauptverfahren gegen Eid eröffnen will. Der Termin für den Prozeßbeginn steht noch nicht fest, aber daß Eid sich vor Gericht verantworten muß, ist klar.

Wer will es wirklich wissen?

Im Haus Hafenstraße 52 ragen die verkohlten Holzbalken schwarz in die ausgebrannten Räume voller Schutt und Aschenreste. Es stinkt nach verkokeltem Holz und Plastik. In einem Zimmer im Erdgeschoß liegt ein Zettel am Boden, bunt und unversehrt. Da steht: „Wir Kinder, wir sind vergnügt und froh!“