Zuviel Geld für Gameboys

■ Der WDR als Hilfsorganisation: Wie einmal aus einem "ARD-Brennpunkt" ein Kinderkrankenhaus im russischen Hinterland wurde Von Reinhard Lüke

Von Reinhard Lüke

Perm, am Westrand des Urals, Freitag vorletzter Woche, 14 Uhr Ortszeit. WDR-Intendant Fritz Pleitgen steht im dunklen Zweireiher auf einer kleinen Bühne vor einem viergeschossigen Gebäude und strahlt. Und das weit über das bei offiziellen Anlässen übliche Maß hinaus. Er sei stolz und glücklich, sagt er jedem, der es hören will. Und komischerweise ist man geneigt, ihm zu glauben.

Dafür gibt's plausible Gründe. Bei dem Gebäude, das an diesem Tag höchstfeierlich eingeweiht wurde, handelt es sich um ein neues Kinderkrebs-Krankenhaus, finanziert durch Spendengelder aus deutschen Landen. Und an deren Aufkommen war Pleitgen nicht ganz unschuldig. 1992, kurz vor Weihnachten, begab es sich, daß der damalige WDR-Chefredakteur einen „ARD-Brennpunkt“ anläßlich der Aktion „Helft Rußland!“ moderierte. Und im Anschluß an einen aufwühlenden Bericht über die katastrophalen Zustände im Kinderkrankenhaus von Perm entschlüpfte ihm der folgenschwere Satz: „Der kleine Serjoscha würde sich übrigens auch über ein Spielzeug freuen.“

Spielzeug, Teddybären für notleidende Kinder – das geht ans Herz wie bedrohte Robbenbabies. Es kamen nicht nur Plüschtiere, sondern es floß auch reichlich Bares. Was Pleitgen gerührt haben dürfte, ihn aber auch gehörig in die Bredouille brachte. Da man das Geld nicht einfach nach Perm überweisen wollte, wo es womöglich (oder sagen wir ruhig: wahrscheinlich) irgendwo versickert wäre, sah sich der WDR unvermittelt in die Rolle einer Hilfsorganisation gedrängt. Um sich nicht allein mit der Verantwortung herumzuschleppen, machte man eine rheinische Lokalzeitung und die Hilfeprofis von Care zu Partnern. Durch die Zusammenarbeit mit der Uniklinik Düsseldorf gelang es darüber hinaus, die Sterblichkeitsrate bei den an Leukämie erkrankten Kindern in Perm binnen relativ kurzer Zeit von 95 auf rund 60 Prozent zu senken.

Aber da lagen ja immer noch die rund vier Millionen Mark auf dem Spendenkonto. Ein bißchen viel, um dafür nur Gameboys zu kaufen. Was tun? Kinderkrankenhaus bauen? Prima. Wer baut? Wir, die Deutschen? Damit auch was draus wird. Macht aber irgendwie einen schlechten Eindruck. Bißchen chauvi oder? Sollen besser die Russen ran? Ja schon, aber wer garantiert uns, daß die nicht Murks machen? Das THW? Genau. Betrauen wir die doch mit der Bauaufsicht. Und siehe da, die Rechnung zwischen Altruismus und Pragmatismus ging auf.

Die neue Kinderklinik in Perm darf sich nun rühmen, die modernste Rußlands zu sein. Was während der Bauphase nicht immer absehbar war. Zumal der Partner Care zwischenzeitlich durch das Ruanda-Desaster des (inzwischen gefeuerten) Vorsitzenden einen herben Imageverlust einfuhr. Von daher war Pleitgens Erleichterung anläßlich der Einweihungsfeierlichkeiten – auch der örtliche Gouverneur und der deutsche Botschafter hatten sich eigens herbemüht – nur allzu verständlich.

Daß ausgerechnet die Kinder von Perm in den Genuß dieser Hilfsaktion aus deutschen Landen kamen, hat wiederum viel mit den Gesetzmäßigkeiten des Fernsehens zu tun. Die Leukämierate bei Kindern ist hier nicht signifikant höher als in wahrscheinlich Hunderten anderer russischer Städte. Aber Perm mit seinen 1,2 Millionen Einwohnern war wegen ihrer Rüstungsbetriebe bis 1991 eine für Ausländer gesperrte Stadt und deshalb für Westjournalisten nach der Öffnung von besonderem Interesse. Schließlich gab es hier auch mehrere Straflager, darunter das berüchtigte mit der Nr. 35.

Wer heute, gestärkt durch eine bemerkenswerte Borbrause, auf dem Regionalflughafen landet, erfährt schon bei der Fahrt in die Stadt, was Schlaglöcher sind. Gegen das Zentrum erscheint einem das zwei Flugstunden entfernte Moskau unwillkürlich wie eine weltstädtische, blitzblanke Metropole, und verglichen mit der trüben Kama mutet der Rhein unwillkürlich wie ein klarer Gebirgsbach an. Der Angabe von offiziell zehn Prozent Arbeitslosigkeit schenkt man soviel Glauben wie einer Rede von Jürgen W. Möllemann, und dann an jeder Ecke mahnende Beispiele für das, was aus dem Projekt Kinderkrankenhaus auch hätte werden können: Imposante Rohbauten, die irgendwann einmal begonnen, dann wegen Geldmangel vergessen wurden und nun, von Moos überwuchert, als seltsame Mahnmale zwischen Aufschwung und Niedergang überall herumstehen.

Vor diesem Hintergrund wird Fritz Pleitgens Stolz und Glück (von Erleichterung ganz zu schweigen) bei der Einweihung nur allzu verständlich. Ob er demnächst noch mal öffentlich nach Teddybären verlangen wird, ist eine andere Frage. Reinhard Lüke