Keine Zeit zum Angsthaben

„Für viele bleibst du so verrückt wie geheimnisvoll“: die Studentin Corinna Schwiegershausen, eine der weltbesten Drachenfliegerinnen  ■ Von Thomas Herget

Darmstadt (taz) – Die Wangen sind eingefallen, der Gang ist schleppend. Kein Auge habe sie heute nacht zugemacht, erzählt die notorische Frühaufsteherin. Auf dem Balkon der WG gammeln Schnitzelreste in Papptellern, schwimmen Zigarettenfilter in gärigem Bier. Über dem Studentenwohnheim Karlshof liegt Katerstimmung und der Geruch von Verbranntem, nur eine scheint die gestrige Fete überlebt zu haben: Corinna Schwiegershausen, zweifache deutsche Meisterin im Drachenfliegen.

Sie schüttelt sich die Müdigkeit aus den Gliedern und redet sich mit Erinnerungen wach. Wie es beispielsweise anfing mit ihrer Leidenschaft fürs Fliegen, vor acht Jahren bei einem Familienurlaub in der Rhön, wo sie auch heute noch Kurse betreut. Der Vater, selbst begeisterter Aeronaut, meldete die Sechzehnjährige zu einem Schnupperkurs für Drachenflieger an. Rasch fand sie Gefallen an der Sache, machte ihren Pilotenschein, und seit fünf Jahren betreibt sie die windige Passion neben ihrem Studium als Kommunikationsdesignerin als Leistungssport. Nach deutschen Meisterschaften, Streckenpokalen in der Frauen- und Juniorinnenklasse, erinnerte sich jüngst auch der Bremer Innensenator an die erfolgreiche Tochter der Stadt und ehrte Corinna Schwiegershausen „für besondere Leistungen im Sport“.

Mehr als geflügelte Worte würden meist nicht vergeben, bedauert das 24jährige Leichtgewicht (49 Kilo). Zuwenig medienwirksam sei ihre Sportart, um profitabel von ihr leben zu können. Ihr Sponsor, ein Hersteller von Energiedrinks, bekäme vor Aufregung schon feuchte Hände, wenn ihr Funk und Fernsehen zu Interviews auf die Pelle rückten. Sie könne dann auch „einiges geraderücken über das Risiko beim Fliegen, denn einige denken, wir wären so eine Art Selbstmordkommando“. Schuld am Image der bunten Überflieger sei auch die Trendsportart Paragliding, bei der häufig Ungeübte mit ihrem sensiblen Sportgerät zu haarigen Manövern gezwungen würden. Da könne man im Nachhinein in der Presse gegensteuern, wie man wolle, glaubt Schwiegershausen: „Für viele bleibst du so verrückt wie geheimnisvoll.“

Nicht nur sprichwörtlich dem Himmel näher als der Erde war sie in ihrer Karriere erst einmal: Bei der letztjährigen WM in Australien, wo sie mit der Frauennationalmannschaft Team-Weltmeisterin wurde, stieß sie mit einer Konkurrentin zusammen. Als sie in zwei Kilometer Höhe das Alurohr bersten hörte, riß sie den Rettungsschirm aus der Tülle. Was hat sie gedacht, als ihr Leben an einem Fetzen Polyester hing? „Nichts“, sagt sie, „du hast keine Zeit zum Angsthaben.“

Auch abseits des Luftraums blieb Corinna Schwiegershausen von Kollisionen nicht verschont. Beim letztjährigen „Meeting Monte Grappa“ im italienischen Bassano setzte ein Kollege – ein auf Linksverkehr eingeschworener Australier – das Auto der Wahl- Darmstädterin gegen ein entgegenkommendes Gefährt. Neulich erst habe sie dann ein Lkw „glatt übersehen“: der R 5, dem Corinna anschließend zitternd entstieg, hatte nach dem Crash nicht einmal mehr Schrottwert. Da macht sich die junge Frau, die aus Höhenangst kaum über die Brüstung ihres Balkons zu blicken wagt, sich aber in 3.000 Meter Höhe im Trapezgurt ihres Hängegleiters „pudelwohl“ fühlt, schon ihre Gedanken über den Tod „und was mir mein Hobby eigentlich wert ist“.

An diesem klaren Morgen hängt sie keinen trüben Gedanken nach. Gerade hat ein Freund angerufen. „Die Basis“ läge bei 2.300 Meter. Gemeint sei die Wolkenhöhe, erklärt die Expertin. Nicht schlecht für die Rheinebene und ihren Hausberg, den Melobokus, den sie als einzige Frau unter 160 Männern des Ersten Odenwälder Drachenfliegerclubs für bis zu 180 Stunden im Jahr befliegt. Ideal sei das relativ flache Areal für die Vorbereitung auf die Wettkämpfe in den Alpen, umreißt Schwiegershausen das Paradoxon. An den sanften Hügeln entlang der Bergstraße müsse sie sich die Thermik noch „erschnüffeln“, bevor die sie in die Höhe schraube. Sich an den sonnenbeschienenen Flanken des Hochgebirges stundenlang in der Luft zu halten, sei dagegen kein Problem – schon eher, daß sie oft bei schönem Wetter flügellahm und fingernägelkauend im Hörsaal schwitzen mußte, „weil die Uni dieses Jahr einfach vorgeht“.

Ohne berufliches Rückgrat und Finanzspritzen aus der Industrie, die die Kosten für Material und Reisen ausgleichen, wäre der sportliche Absturz vorprogrammiert in einer Branche, in der derzeit nur der Weltmeister Tomas Suchanek von seinen Flugkünsten leben kann. Dessen Erfahrung machte sich Corinna während eines Praktikums bei seinem Drachenhersteller in Sydney zueigen und stellte mit ihrem tschechischen Pendant fast nebenbei einen Weitenweltrekord im Tandemflug auf.

Wichtiger als Titel und das stereotype Fotographieren der Bojenpunkte bei Wettbewerben sind der Drachenfliegerin aber jene raren Momente, in denen sie ihr 12.000 Mark teures Gefährt ins Reich der Einsamkeit über den Wolken entführt. Wenn sich der eigene Schatten auf der Nebelschicht unter ihr abzeichne und die Sonne einen Regenbogen danebenzaubere, dann spüre sie, wie die Last des Alltags abfalle „und alles ganz leicht wird“.