Merkel hofft auf die Ausnahmen

■ Die EU überarbeitet ihre Störfall-Richtlinie. Die Öffentlichkeit soll auch in Deutschland angehört werden

Berlin (taz) – „20 Jahre nach Seveso hat sich die Sicherheit chemischer Anlagen trotz zahlreicher Störfälle und Betriebsstörungen nicht verbessert“, kritisiert Jürgen Rochlitz, chemiepolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, und fordert mehr Sicherheit vor Chemikalien. Auch für den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) klaffen noch immer erhebliche Sicherheitslücken bei Produktion und Transport von Chemikalien. Bei den Unfällen mit Chlorgas am Leverkusener Autobahnkreuz und dem Brand von Vinylchlorid in Waggons am Schönebecker Bahnhof „sind wir zweimal hintereinander nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt“, glaubt Michael Rieß, Chemie-Experte des BUND.

Betriebsstörungen – kleine und große – sind in der Industrie unvermeidlich. Doch können „größere Störfälle verhindert werden, indem man giftige oder explosive Substanzen durch harmlosere ersetzt“, so Rieß. Bei den Wasserlacken, die inzwischen in jedem Baumarkt im Regal stehen, ist das inzwischen gelungen. Früher enthielten die Lacke brennbare und leichtflüchtige Lösemittel. Auch bei Kunststoffen ist eine sichere Chemie machbar, so Jürgen Rochlitz: Wird auf Polyvinylchlorid (PVC) verzichtet, werden keine Zwischenprodukte wie Vinylchlorid mehr gebraucht.

Währenddessen wird in Brüssel über eine neue Seveso-Richtlinie, kurz Seveso-II, entschieden: In der nächsten Woche berät das Parlament über Seveso-II und im Herbst entscheiden die Umweltminister aller EU-Länder. Dann haben die Mitgliedsstaaten zwei Jahre Zeit, die neue Richtlinie in nationales Recht zu übernehmen.

Seveso und die Desinformationen danach hatten die Gesetzgeber wachgerüttelt: 1980 – vier Jahre später beschloß der Bundestag die Störfallverordnung, und noch etwas später, 1982, verabschiedete der Ministerrat in Brüssel die Seveso-Richtlinie. Auf dem Papier stehen damit genauere Informationen für die Anwohner potentiell gefährlicher Betriebe.

Seveso-II ist nun mehr als nur eine Weiterentwicklung der alten Richtlinie, denn die Brüsseler Gesetzgeber haben einen neuen Ansatz gewählt: Die Vorschriften in Seveso-II beziehen sich auf den ganzen Betrieb und nicht mehr wie bisher auf eine einzelne Anlage. Die Konsequenz: Die Risikoanalysen müssen dann zum Beispiel auch das Chemikalienlager berücksichtigen, das neben dem Rührkessel steht.

Umstritten sind die Ausnahmeregelungen in Seveso-II: So soll die Bildung gefährlicher Stoffe bei Bränden oder Explosionen nur dann unter die Richtlinie fallen, wenn „sie bei außer Kontrolle geratenen industriellen chemischen Verfahren anfallen“. Das zumindest will Angela Merkel mit allen anderen Umweltministern durchsetzen. Die Umweltexperten des Europäischen Parlaments hingegen halten diese Einschränkung für überflüssig. Denn das würde die Bildung von Giftstoffen ausklammern, die bei Störfällen in nicht-chemischen Anlagen oder beim Betrieb von Abfallverbrennungsanlagen entstehen.

Für Merkel & Co. fällt die Beförderung gefährlicher Güter auf Straße, Schiene, Wasser und in der Luft auch weiterhin nicht unter die Richtlinie, genausowenig wie militärische Anlagen. Kernkraftwerke sind hingegen nicht mehr prinzipiell außen vor. Allerdings betrachtet die Richtlinie nur die toxischen Risiken von Stoffen wie Uran oder Plutonium, nicht die Gefahren, die von der Radioaktivität ausgehen.

Fehlentscheidungen und Nachlässigkeiten des Managements sind zu 90 Prozent für die Unfälle und die Folgen mitverantwortlich. Daher sollen Betriebe jetzt ein „Konzept zur Verhütung schwerer Unfälle“ vorlegen, das alle Elemente der Vorsorge zusammenfaßt. Dazu gehört die betriebsinterne Organisationsstruktur, aber auch Maßnahmen zur Ausbildung, eine Bewertung der Risiken, ein Konzept zur Qualitätssicherung sowie die Notfallpläne.

Neu für deutsches Recht wird sein, daß die Öffentlichkeit bei externen Notfallplänen angehört werden muß. Bisher sind zwar die meisten Unternehmer einmal ihrer Informationspflicht nachgekommen, doch meist sind Broschüren für die Anwohner schlecht gemacht. Der BUND fordert, daß die Broschüren mindestens alle zwei Jahre überarbeitet werden und neuen Anwohnern automatisch zugestellt werden. Hier verpasse die Chemieindustrie eine Chance: „Sie könnte durch eine offene Diskussion über die Risiken ihrer Anlagen ihr angekratztes Image verbessern.“ Ralph Ahrens