Amnesie im Kreml

■ Der Tschetschenienkrieg geht weiter

Der russische Präsident Boris Jelzin hat scheinbar keine Zeit für eine kleine Ruhepause. Nach einer erfolgreich geschlagenen Wahlschlacht kämpft der selbsternannte Friedensbringer des Kaukasus gleich weiter, diesmal wieder auf tschetschenischem Terrain. Der Wahlkampf ist vorbei – die Schonzeit für Tschetschenien ebenfalls. Seit zwei Tagen bombardieren russische Truppen den Süden der Kaukasusrepublik. Mindestens 40 Menschen wurden dabei getötet, unzählige sind aus Angst vor neuen Angriffen auf der Flucht. Der Krieg, den viele durch die Friedensschlüsse vom Mai und Juni im daghestanischen Nasran schon beendet glaubten, geht weiter.

Damit ist endgültig klar, daß die jüngsten Hoffnungen auf eine Friedenslösung eher dem Wunschdenken in Ost und West als der Wirklichkeit entsprachen. Denn die hat sich nicht im geringsten geändert. Im Gegenteil. Wie schon so oft vorher wiederholen sich die perfiden Szenarien und grotesk inszenierten Schaupiele: Die Russen bomben Dörfer zusammen, angeblich, weil sich dort Rebellen verschanzen, die Unabhängigkeitskämpfer drohen mit der Erschießung ihrer Kriegsgefangenen. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig der Provokation.

Auch Wjatscheslaw Tichomorow, der noch immer Oberbefehlshaber der russischen Truppen in Tschetschenien ist und von dessen Absetzung der Kreml merkwürdigerweise nichts wußte, kehrt zu seiner alten Rhetorik zurück. Er werde die tschetschenischen „Banditen“ auslöschen, verkündete er. Und der neue Sicherheitsberater Alexander Lebed wandelte sich quasi über Nacht vom Hoffnungsträger zum Hardliner. Ein typischer Fall von Gedächtnisschwund. Noch vor knapp zwei Wochen und gerade auf seinen neuen Posten berufen, konnte Lebed den Tschetschenen gar nicht schnell genug ein Referendum in Aussicht stellen. Davon ist, obgleich der Exgeneral weiter seinen Friedenswillen betont, keine Rede mehr: Den Schuldigen, das heißt den Rebellen den Garaus machen, heißt die neue, alte Devise.

Er werde alles tun, um das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, erklärte Boris Jelzin gestern pathetisch in einer Fernsehansprache. Seine ersten vertrauensbildenden Maßnahmen haben bereits einen Namen: Krieg. Barbara Oertel