Wirtschaftliche Existenzvernichtung

■ Die sogenannte „Arisierung“ jüdischer Geschäfte im nationalsozialistischen Deutschland ist immer noch ein Tabuthema / Ein exemplarisches Beispiel: die koschere Schlachterei Simon Appel in der Grindelallee 38

Die Welt freute sich. Am 15. Oktober 1994 meldete sie: „Neue Nachschubbasis für die koschere Küche.“ Anlaß war die Eröffnung eines koscheren Lebensmittelgeschäfts in Hamburg, erstmals seit 50 Jahren, wie irrtümlich berichtet. Denn 1944 waren alle koscheren Geschäfte Hamburgs längst „arisiert“, ihre ehemaligen Besitzer vertrieben und ermordet. Ein Beispiel.

Eine ganz gewöhnliche Schlachterei?

100 Gramm bratfertige Rouladen DM 1,68; Kalbfleisch, Bierschinken und Mortadella 100 Gramm DM 1,98. „Fleisch“ und „Wurst“ steht in großen Lettern über den roten Markisen. In den beiden Schaufenstern wird auf handgeschriebenen Pappen für die Produkte des Geschäfts geworben. Ein ganz gewöhnlicher Schlachterladen in Hamburg, genauer in der Grindelallee. Ein etwas kleineres Schild preist „Feine Delikatesswürstchen aus der Grindelschlachterei“ an. So fein sie auch sein mögen, koscher sind sie nicht. Warum auch: die ehemaligen Besitzer und Kunden dieses Ladens sind vertrieben und ermordet.

Zeitblende: Vor mehr als 70 Jahren konnte der „Deutsch-Israelitische Synagogenverband zu Hamburg“ in großen Anzeigen im „Israelitischen Familienblatt“ noch auf eine stattliche Anzahl von Geflügel- und Milchhändler, auf Speisehäuser und Kochinstitute hinweisen, die unter der Aufsicht des Oberrabbinats standen. Alle Inhaber werden benannt, sei es Emanuel in der Hoheluftchaussee, Horwitz in der Rappstraße oder Israel in der Rutschbahn. Die Liste der Fleischhändler, alphabetisch geordnet, wird angeführt von „S. Appel. Grindelallee 38.“

Simon Appel starb am 18. 8. 1936. Sein Sohn Alfred Appel, dem es gelang, nach der Pogromnacht und seiner Verschleppung ins Konzentrationslager auszuwandern, lebt heute in Porto Alegre, Brasilien. In Briefen erinnert er sich an das Geschäft seiner Eltern: „Ich bin in Hamburg geboren, habe die Talmud-Tora-Schule am Grindelhof besucht und habe dem Gottesdienst in der Bornplatz-Synagoge beigewohnt. (...) Meine Eltern besaßen dort in der Grindelallee 38 unsere koschere Schlachterei unter Aufsicht des dortigen Oberrabbinats, welches wohl ohne zu übertreiben der schönste und besteingerichtete Laden war. Unsere Schlachterei verkaufte nur Ware, welche in unserer eigenen Fabrik hergestellt wurde. (...) Unser Geschäft war immer Freitagnachmittag bis Sonntag geschlossen und wir zum Beten in der Bornplatz-Synagoge, wo wir unsere eigenen Plätze hatten.“

Alfred Appels Vater war Mitglied der „Henry-Jones-Loge“, er selbst aktiver Leichtathlet im jüdischen Turn- und Sportverein Bar Kochba. Voller Stolz berichtet der 88jährige, daß er „mit dem Mogen David viele Siege errungen hat.“ Das sichere, von „Liebe und Respekt“ geprägte Familienleben änderte sich schlagartig mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten. „Als die Nazis das Schächtverbot erließen, mußten wir das Geschäft schließen und auch eine neue Wohnung suchen, was damals nicht leicht zu finden war.“

Der als ,Verkauf' getarnte staatliche Diebstahl

Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Familie Appel ging einher mit dem allgemeinen Prozeß gesellschaftlicher Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Deutscher. Schon am 1. April 1933, dem Beginn des Boykotts jüdischer Geschäfte, setzte ihre Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben ein. Wie Elfriede Appel, Alfred Appels Mutter, waren viele kleine Geschäftsleute gezwungen, ihre Geschäfte aufzugeben, sie an „Arier“ zu verkaufen. Drei Wochen nach der sogenannten „Reichskristallnacht“ berichtete das nationalsozialistische Hamburger Tageblatt am 2. 12. 1938 unter der Überschrift „Alle jüdischen Einzelhandelsgeschäfte Hamburgs werden geschlossen“ über die „Entjudung der Hamburger Wirtschaft“: „Im Zuge der Maßnahmen des Reiches zur völligen Entjudung der deutschen Wirtschaft werden seit gestern die jüdischen Einzelhandelsgeschäfte in Hamburg Zug um Zug geschlossen. In wenigen Tagen schon wird in Hamburg kein jüdisches Einzelhandelsgeschäft mehr bestehen. (...) Damit erfüllt Hamburg eine Forderung der Reichsregierung, die Judenfrage in Deutschland nach dem feigen Mord von Paris endgültig zu bereinigen.“

Am 12. Januar 1939 mußte auch Elfriede Appel – die zu diesem Zeitpunkt schon den Zwangsnahmen „Sara“ tragen mußte – ihr Grundstück in der Grindelallee verkaufen. Alfred Appel zu diesem 'Verkauf': „Wenn das Grundstück im Jahre 1939 verkauft wurde, so war es nur gezwungener Weise, denn niemals hätte meine Mutter freiwillig das Haus verkauft. (...) Das Geld ist ihr niemals ausgehändigt worden.“ Senator von Allwörden genehmigte im März 1939 im Auftrage des Reichsstatthalters in Hamburg den Kaufvertrag. An die Genehmigung war allerdings die Bedingung geknüpft, daß der Kaufpreis „auf ein Konto eingezahlt wird, über das nur mit Zustimmung des Herren Oberfinanzpräsidenten (Devisenstelle) Hamburg verfügt werden kann.“

Im Hamburger Staatsarchiv lagern im Bestand des Oberfinanzpräsidenten (Devisenstelle) circa 10 000 (!) Einzelfallakten, die die Prüfung von Auswanderungsanträgen, vor allem von Juden, betreffen und genaueste Vermögenserklärungen und Umzugsgutverzeichnisse enthalten. Daneben existieren mehr als 6 400 Akten, die akribisch den Entzug der Verfügung über eigene Vermögenswerte durch sogenannte „Sicherungsanordnungen“ dokumentieren. Deutscher Ordnung und Gründlichkeit 'verdanken' wir den Blick hinter die Fassade einer nur scheinbar reinen Finanzbehörde. Die Lektüre dieser Akten bezeugt die enge Zusammenarbeit von Finanzämtern, Zollfahndungsstellen und Gestapo. Man arbeitete Hand in Hand. Der Schriftwechsel belegt die reibungslose Umsetzung durch die Bürokratie.

Die Vergangenheit der Hamburger Finanzbehörde ist nur scheinbar „rein“

Alleiniges Ziel: die Bereicherung des deutschen Staates, die Begünstigung von Parteimitgliedern durch die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden, der Zugriff auf ihr Eigentum, sei es durch finanzielle Auspressung und Ausplünderung ausreisewilliger Juden nach den Vorschriften der Reichsfluchtsteuer, sei es durch „Arisierung“ ihrer Geschäfte. Auch nach den im Oktober 1941 einsetzenden Deportationen führte die „Vermögensverwertungsstelle“, Teil der perfektioniert arbeitenden Finanzverwaltung, für jeden Deportierten sogenannte „J-Akten“. Es galt, das verbleibende Vermögen einzuziehen, Hausrat und weiteres Eigentum zu erfassen. Diese Akten, nur noch teilweise erhalten, enthalten z.B. Aufstellungen über Versteigerungen, deren Erlöse an die Gestapo überwiesen wurden, sowie Auskünfte über die Verwaltung beschlagnahmter Grundstücke.

Elfriede Appels Akte trägt die Signatur 700/39. Zwei Monate nach dem Verkauf ihres Grundstücks in der Grindelallee erließ der Oberfinanzpräsident Hamburg am 16. März 1939 eine „Sicherungsanordnung“ gegen Elfriede Appel. Von dem Zeitpunkt an konnte sie von ihrem Girokonto bei der Bank M.M. Warburg ohne Genehmigung nur noch über RM 300 monatlich verfügen. Zur Begründung hieß es zum Schluß der mehrseitigen Anordnung: „Frau Elfriede Appel ist Jüdin. Es ist damit zu rechnen, daß sie in nächster Zeit auswandern wird. Nach den in letzter Zeit mit auswandernden Juden gemachten Erfahrungen ist es notwendig, Verfügungen über das Vermögen nur mit Genehmigung zuzulassen.“

Für jedwede Ausgaben mußte Elfriede Appel von nun an demütigende und bittstellende Anträge stellen, RM 19,80 für die Instandhaltung der Gräber ihrer Angehörigen, RM 14 für ein Paar Gummistrümpfe. Auf dem Geschäftspapier ihrer ehemaligen Schlachterei und Wurstfabrik beantragte sie am 12. März 1940 die „Gewährung einer höheren Monatsquote“. In der Begründung schrieb sie: „Ich bitte Sie höflichst, mir (...) einen höheren Betrag zuzugestehen, da ich einen Wohnungswechsel vornehmen mußte, wodurch sich mein Lebensunterhalt verteuert hat, außerdem gebrauche ich wegen meines schlechten Gesundheitszustandes viele Medikamente.“ Im Mai und Oktober 1940 beantragte sie die Freigabe von Geldbeträgen für ihren Bruder und andere Verwandte, die auswandern wollten.

Elfriede Appel selbst wanderte nicht aus. Am 25. 10. 1941 wurde sie mit anderen nach Lodz deportiert und dort ermordet. Ihr Sohn Alfred Appel schreibt dazu: „Das traurigste meines Lebens ist eine Karte meiner Mutter, welche ich bis zum letzten Tage meines Lebens über alles in der Welt geliebt habe. (...) Es handelt sich um das letzte Lebenszeichen, zwei Tage vor dem Massentransport der Juden nach Lodz.“ In diesem Abschiedsbrief schrieb Elfriede Appel: „Ich schreibe diese Woche schon wieder und Ihr werdet dann von hier nichts mehr von mir hören. (...) Lebt wohl Ihr Geliebten, bleibt weiter gesund, der Allmächtige sei mit uns allen. Ich küsse Euch, mein geliebter Alfred, innigst Eure sich nach Euch sehnende Mama.“

Tränen im Exil, Jubelfeier im Amt

Im Vorfeld der 75jährigen Jubiläumsfeier des früheren Reichs- und heutigen Bundesfinanzhofes im Oktober letzten Jahres gab es harte Kritik wegen der weitgehenden Ausblendung antijüdischer Urteile. Man wollte sich die Jubelfeier nicht „vermiesen“ lassen. Nach heftigen Kontroversen distanzierte sich der Präsident des Bundesfinanzhofes von den „Unrechtsurteilen“ des Reichsfinanzhofes.

Im Juni 1989 feierte das Modehaus Fahning, damals noch am Neuen Wall in Hamburg, traditionsbewußt sein 50jähriges Firmenjubiläum – mit Firmenanzeigen vom 29. April 1939. Selbstverständlich ohne darauf hinzuweisen, daß erst im November 1938 das Bekleidungshaus der Gebrüder Hirschfeld „restlos in arischen Besitz“, und zwar Fahnings, übergegangen war.

Der „Fall“ Fahning ist in Hamburg mehr oder minder geläufig. Niemand spricht aber von einer kleinen Schlachterei Appel in der Grindelallee und den vielen anderen, denen die wirtschaftliche und soziale Existenz geraubt wurde. Bis heute ist die Aufarbeitung dieses Kapitels hamburgischer Geschichte äußerst bescheiden. So unverzichtbar die Inventarisierung von Grabmälern auf den jüdischen Friedhöfen der Stadt ist, längst überfällig und zu dokumentieren ist, wer im wahrsten Sinne des Wortes von der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bürger Hamburgs profitiert hat. Auch wenn dieser Aufklärungsprozeß unangenehm und peinlich sein wird.

Wilfried Weinke