: Beim Abbiegen wartet der Tod
In diesem Jahr wurden schon neun Fahrradfahrer bei Unfällen getötet. Die meisten Opfer waren ältere Frauen und Kinder. Bessere Schutzmaßnahmen an Lkws scheiterten an der EU ■ Von Martin Kaluza
Am 2. Juli wurde eine Radfahrerin frühmorgens an der Ecke Hultschiner Damm/Werbellinstraße von einem Lkw erfaßt und getötet. Dabei erlitt sie so starke Schädel- und Gesichtsverletzungen, daß sie erst nach zwei Tagen identifiziert werden konnte.
Die 58jährige Hellersdorferin hatte auf der Werbellinstraße geradeaus an der Einmündung des Hultschiner Damms weiterfahren wollen, während der Fahrer des Lkw, ebenfalls von der Werbellinstraße kommend, die Frau beim Abbiegen übersah. Sie war die neunte FahrradfahrerIn, die in diesem Jahr allein in Berlin getötet wurde.
Der Unfallhergang ist dabei für die Statistik der Polizei alles andere als neu – fast alle Opfer sind ums Leben gekommen, indem sie beim Geradeausfahren von einem abbiegenden Fahrzeug erfaßt wurden. Die in diesem Jahr Getöteten sind überwiegend weiblichen Geschlechts, es traf vor allem Kinder und ältere Frauen. Ein Personenkreis, der bekanntlich nicht gerade zu den typischen „Fahrradrasern“ gezählt werden kann.
An Ampelkreuzungen, Einmündungen und an Ein- oder Ausfahrten werden Fahrradfahrer regelmäßig von Kraftfahrern übersehen. Häufig schauen Autofahrer vor dem Abbiegen gar nicht nach hinten, im schlimmsten Fall biegen sie plötzlich ab, ohne zu blinken, so daß die Radfahrer das Abbiegen nicht einmal erahnen können.
Die immer gleichen Unfallmuster werfen die Frage auf, welche Maßnahmen zur Vermeidung solcher Unfälle getroffen werden können und welche auch tatsächlich getroffen werden.
Radler werden vor allem dann schwer verletzt und getötet, wenn Lkws und Sattelschlepper in den Unfall verwickelt sind. Sie sind nicht nur die schwersten, sondern auch die unübersichtlichsten Fahrzeuge. Die Reaktionsmöglichkeiten der Fahrer haben ihre Grenzen. So berichtet der Lastkraftwagenfahrer Ralf Birkner: „Manchmal sind die Radfahrer einfach zu schnell und tauchen plötzlich zwischen parkenden Autos auf. Aber ein Lkw hat eine gewisse Länge und braucht seine Zeit, bis er um die Ecke ist.“ Sein Appell: Die Fahrradfahrer müßten den Lkw-Fahren auch Zeit zum Reagieren lassen.
Der Abbiegeunfall, in den der Berufsfahrer Birkner verwickelt war, ging zum Glück glimpflich aus: Personen wurden nicht verletzt, bloß Materialschäden waren zu verzeichnen.
Zur Todesfalle wird für die Radler vor allem der Raum vor der Hinterachse: Wer unter den Laster gerät, dem hilft kein Helm. Aus diesem Grund ist es schon seit einiger Zeit Vorschrift, daß Lkws mit einem Seitenschutz ausgestattet werden müssen, der verhindern soll, daß Radler überfahren werden. Zumeist besteht dieser aus einigen Planken – auf die wesentlich effektivere Variante einer großflächigen Seitenverkleidung konnten sich die Gesetzgeber nicht einigen: Zu groß waren die Meinungsverschiedenheiten in der EU.
Mit gutem Beispiel geht die Berliner Stadtreinigung (BSR) voran. Sie stattet ihre großen Lkws freiwillig mit dem Flächenschutz aus. „Den Erfolg“, meint ein Mitarbeiter des TÜV Berlin-Brandenburg, „kann man daran erkennen, daß die BSR bei Unfällen keine Fahrradfahrer mehr unter der Hinterachse hat.“ Genauso verhält es sich mit den Omnibussen der BVG, deren geringe Bodenfreiheit keinen Radler mehr unter den Wagen geraten läßt. Im übrigen eine alte Idee: Die ersten Busse mit Flächenverkleidung führte die BVG schon 1912 ein.
Ergänzt wird der Schutz am Fahrzeug durch die Vorschrift zweier besonderer Spiegel, von denen einer dem Fahrer den Raum neben seinem rechten Vorderrad zeigt. Der andere zeigt beim Abbiegen einen besonders weiten Ausschnitt. Ein toter Winkel von etwa vier Metern läßt sich aber trotzdem bei Lkws nicht verhindern. Immerhin stellen Berliner Fahrschulen in Zusammenarbeit mit dem TÜV vermehrt Lastwagen zur Verkehrserziehung an Grundschulen zur Verfügung, an denen den Kindern der gefährliche tote Winkel vorgeführt wird.
Technische Verbesserungen können zwar helfen. Es müsse aber, so Benno Koch, Pressesprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC), auch mehr getan werden, um Rechtsabbiegerunfällen überhaupt vorzubeugen. Ein Schritt in diese Richtung ist die systematische „Entschärfung“ von Ampelkreuzungen. Wo dort Radwege sind, werden für die Fahrradfahrer kleine Extraampeln angebracht, die anders geschaltet sind als die für Kraftfahrzeuge: Den Radlern werden einige Meter Vorlauf gegeben, so daß sie bereits auf der Mitte der Kreuzung sind, wenn Autos und Lastwagen ebenfalls grünes Licht bekommen. Das wiederum hat den Vorteil, rechtzeitig gesehen zu werden. Nach Auskunft der Polizei sollen nach und nach alle Ampeln, an denen es Radwege gibt, mit diesen Vorlaufschaltungen ausgestattet werden. Was die Radler zusätzlich in das Sichtfeld der Autofahrer rücken soll, sind vorgelagerte Haltelinien.
Damit dürfe man sich bei der Straßenplanung aber nicht zufriedengeben, mahnt der Sprecher des ADFC. „Die derzeitige Tendenz in Berlin ist es, auf den Radwegen die Fahrradfahrer hinter parkenden Autos regelrecht zu verstecken. Dann muß man sich nicht wundern, wenn sie von den Autofahrern übersehen werden.“
Abhilfe könnte nach Kochs Meinung geschaffen werden, wenn neben den Spuren für Autos Fahrradspuren markiert würden, anstatt Radwege auf den Bürgersteigen im Slalom um Briefkästen und Stromhäuschen herum zu legen. Auf solchen Fahrradspuren, wie es sie zum Beispiel auf dem Südwestkorso gibt, werden zudem Konflikte mit Fußgängern vermieden.
Die Fahrt werde für den Radler streßfreier, was zu einer höheren Akzeptanz der für ihn vorgesehenen Spuren führe, glaubt Koch: „Der Radfahrer, der sich vom Verkehrsgeschehen weggedrängt fühlt, wird auch eher Verkehrsregeln mißachten. Umgekehrt ist es bei den Spuren auf der Straße: Hier werden die Radler als vollwertige Verkehrsteilnehmer akzeptiert, sie sind an einem für sie angemessenen Platz. Sie halten sich dann auch an die Verkehrsregeln und fahren dort nicht gegen die vorgeschriebene Fahrtrichtung.“
In der Senatsverwaltung für Verkehr wird darauf verwiesen, daß solche Fahrradstreifen aus Platzgründen nicht überall einrichtbar seien. Zum anderen sehe man in diesen Spuren kein Patentrezept. Der zuständige Abteilungsleiter für Allgemeinen Straßenverkehr, Karl-Heinz Winter, gibt zu bedenken, daß sich viele Fahrradfahrer hinter den Reihen parkender Autos sicherer fühlten als auf der Straße: „Nicht jeder genießt es, neben einem Lastwagen herzufahren.“
Trotzdem wolle man im Senat nicht die Fahrräder auf den Bürgersteig verbannen. So unterstütze man das Vorhaben, die Radwegebenutzungspflicht (bis auf einige Ausnahmefälle) aufzuheben. „Das wird gerade auf Bund-Länder-Ebene angedacht und ist letzten Endes Sache des Bundesverkehrsministers.“ Eine schnelle Änderung ist hier jedoch nicht in Sicht, denn um die Benutzungspflicht für Radwege aufzuheben, muß die Straßenverkehrsordnung geändert werden. Eine konkrete Änderungsverordnung aber gibt es noch nicht.
Die wohl einzigen Sofortmaßnahmen zum Schutz der Radfahrer bleiben das vorausschauende Fahren und die oft beschworene Rücksichtnahme der Verkehrsteilnehmer untereinander. Manfred Walther, Polizeihauptkommissar in Sachen Unfallursachenuntersuchung, empfiehlt, an der Ampel im Spiegel den Blickkontakt zu Pkw- und Lkw-Fahrern zu suchen und zum Beispiel darauf zu achten, ob Fahrzeuge langsamer werden, die neben einem her fahren: „So weiß ich, der biegt gleich ab, und kann mich darauf einstellen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen