Der Pranger kommt wieder in Mode

Ein Dieb mit einem Schild um den Hals, das Markieren der Autos von Alkoholsündern – das Justizsystem in den USA greift immer öfter auf die öffentliche Erniedrigung von Straftätern zurück  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Michael Potter hatte die Wahl zwischen 30 und 90 Tagen Gefängnis. Drei Monate Knast erschienen dem 19jährigen schlimmer als die Alternative, die ihm der Richter anbot: Weil er als Angestellter einer Autowerkstatt in Eau Claire im US-Bundesstaat Wisconsin 470 Dollar aus der Kasse seines Arbeitgebers gestohlen hatte, verbrachte er einen Monat in der Zelle – und einen Tag am Pranger. Die Baseballmütze in die Stirn geschoben, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Augen in unbestimmte Ferne gerichtet, erduldete er auf dem Parkplatz seiner ehemaligen Arbeitsstelle das Klicken der Fotografen und die bohrenden Blicke aus den vorbeifahrenden Autos. Um seinen Hals hing auf richterliche Anordnung ein großes Pappschild mit den Worten „Ich bin ein Dieb“.

Seinen Namen und sein Foto fand er am nächsten Tag in allen Zeitungen. Als Potters Bild im März durch die Presse ging, lief in den Kinos gerade die Hollywood- Verfilmung des amerikanischen Literaturklassikers „The Scarlet Letter“ („Der scharlachrote Buchstabe“) – die Geschichte der Ehebrecherin Hester Prynne im kolonialen Amerika, die zur Strafe für ihr Vergehen den Buchstaben A für adultery (Ehebruch) weithin sichtbar auf ihrem Rücken tragen mußte. Niemandem schien aufzufallen, daß die Traumfabrik – wohl ohne es zu wollen – ein aktuelles Thema aufgegriffen hatte.

Zu Hester Prynnes Zeiten hätte man Michael Potter ein leuchtendes T für thief (Dieb) zwischen die Schultern genäht – oder ihn einen Tag lang auf dem Marktplatz an den Pranger gekettet. Scham und öffentliche Erniedrigung galten in der Alten wie der Neuen Welt bis ins frühe 19. Jahrhundert als angemessene Mittel, Gesetzesbrechern und Sittenlosen „eine Lehre zu erteilen“. So denken auch im ausgehenden 20. Jahrhundert immer mehr Richter und Staatsanwälte in den USA – darunter Ralph Martin, der Bezirksstaatsanwalt von Suffolk County im Bundesstaat Massachusetts, in dessen Zuständigkeitsbereich auch die Stadt Boston fällt. Martin meinte im Kampf gegen das expandierende Prostitutionsgewerbe zu besonderen Mitteln greifen zu müssen. Anfang Juni beantragte er vor Gericht, zwölf Freier zu einer Geldstrafe und vier Stunden „gemeinnütziger Arbeit“ zu verurteilen. Die Männer mußten mit Schaufel und Besen antreten, um das Rotlichtviertel vom Müll zu säubern. Die Staatsanwaltschaft lud die Presse eigens ein, die Verurteilten zu filmen und zu fotografieren.

Drei Monate zuvor hatte Martin Videoaufnahmen von festgenommenen Freiern auf dem Polizeirevier im Lokalfernsehen zeigen lassen. In Miami sind Stadtverwaltung und Gerichte dazu übergegangen, die Namen von Prostitutionskunden auf Anzeigentafeln an den Highways zu veröffentlichen. In Canton im Bundesstaat Ohio werden sie während der Nachrichtensendungen eingeblendet.

Die Tendenz zum Pranger trifft nicht nur Diebe und Freier. In mehreren Bundesstaaten wird ein „scharlachroter Buchstabe“ all jenen auf die Stoßstange oder auf das Autokennzeichen geklebt, die wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt worden sind. Im New Hampshire wurde ein Mann wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes dazu verurteilt, sein Foto mit Namen, Straftat und Entschuldigung in die Zeitung zu setzen. Im selben Bundesstaat versuchen konservative Abgeordnete derzeit, die öffentliche Prügelstrafe für jugendliche Straftäter einzuführen. In South Carolina verurteilte ein Richter die 15jährige Ausreißerin Tonya Kline wegen wiederholten Ladendiebstahls, 30 Tage lang an ihre Mutter angekettet zu werden – was zweifellos beide öffentlich bloßstellen und demütigen sollte.

Wer bislang noch glaubte, diese Methoden seien Auswüchse von Lokalpolitikern oder einzelnen erzkonservativen Richtern, der wurde im Mai diesen Jahres eines Besseren belehrt, als US-Präsident Bill Clinton „Megan's Law“ unterzeichnete. Dieses Gesetz, benannt nach der 7jährigen Megan Kanka aus New Jersey, verpflichtet lokale Behörden, Sexualstraftäter nach ihrer Entlassung aus der Haft an ihrem neuen Wohnort zu registrieren und deren Indentität und Vergangenheit öffentlich zu machen. Megan Kanka war 1994 von einem Nachbarn entführt, vergewaltigt und schließlich ermordet worden. Der Täter war wegen zweier Sexualdelikte vorbestraft.

Die American Civil Liberties Union (ACLU), eine der größten Bürgerrechtsorganisationen in den USA, hat nun vor Gericht geltend gemacht, daß „Megan's Law“ in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig sei: Zum einen soll das Gesetz im nachhinein auch auf längst aus der Haft entlassene Personen angewandt werden; zum anderen verletze es den verfassungsrechtlich garantierten Schutz vor „ungewöhnlicher und grausamer Bestrafung“ sowie den Schutz der Privatsphäre. „Außerdem“, so Mark Kappelhoff, Rechtsexperte der ACLU, „werden hier Leute doppelt bestraft – erst durch die Haft und dann durch die öffentliche Stigmatisierung“. Ein Urteil in dieser Sache ist noch nicht gefällt.

In einer öffentlichen Debatte würde Kappelhoff derzeit bei dem Versuch, die Privatsphäre von entlassenen Sexualstraftätern zu schützen, Gefahr laufen, selbst am Pranger zu landen. Nichts ist in den USA derzeit unpopulärer, als sich für Reformen in der Strafjustiz oder Rechte von Straftätern einzusetzen. „Wir befinden uns in einem Straf- und Vergeltungswahn wie nie zuvor in der Geschichte unseres Landes“, konstatiert Kappelhoff nüchtern.

Der Ruf nach Strafe und Vergeltung ist so neu nicht. Seitdem Ronald Reagan den „Krieg gegen die Drogen“ ausrief, sind Amerikas Gefängnisse chronisch überfüllt. Über 1,1 Millionen Amerikaner sitzen derzeit hinter Gittern. Die Todesstrafe, in den 70er Jahren durchaus umstritten, wird seit Jahren von einer überwältigenden Mehrheit der Öffentlichkeit und der Politiker unterstützt – das Ehepaar Clinton eingeschlossen.

Neu ist jedoch der Einstieg der Demokraten in den verbissenen Wettlauf um den Titel des unnachgiebigsten Schließers der Nation. Niemand wagt es noch, die Worte „Rehabilitation“ oder „Resozialisierung“ in den Mund zu nehmen. Immer mehr Bundesstaaten lassen kriminelle Jugendliche nach dem Erwachsenenstrafrecht aburteilen. Wie die New York Times kürzlich meldete, wollen die Republikaner sogar eines der zentralen Prinzipien des modernen Strafvollzugs aufheben: die Trennung von jugendlichen und erwachsenen Straftätern in Gefängnissen. Jugendstrafvollzug, so die Argumentation, sei zu teuer. Außerdem würden gewalttätige Teenager in Jugendstrafanstalten zu sehr verwöhnt. Die Clinton-Adminstration, ganz darauf bedacht, sich beim Thema Law and order von den Republikanern nicht rechts überholen zu lassen, erklärte, sie sei in dieser Frage „flexibel“.

Bill Clinton buhlte unlängst um die Gunst des (Wähler-)Publikums, indem er ein Gesetz unterstützte, das für Wiederholungstäter nach dem dritten Verbrechen automatisch eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht. Was in die Kategorie „Verbrechen“ (felony) fällt, ist von Bundesstaat zu Bundesstaat höchst unterschiedlich. In Kalifornien erhielt ein Angeklagter nach zwei Vorstrafen „lebenslänglich“, weil er eine Pizza gestohlen hatte. Letzte Woche jedoch bremste der Oberste Gerichtshof Kaliforniens den Law-and-order- Eifer der Politiker und befand, daß Richter in solchen Fällen nicht automatisch lebenslange Freiheitsstrafen verhängen müssen.

In Florida, Arizona, Utah, Kentucky und bis vor kurzem auch Alabama profilieren sich unterdessen Abgeordnete und Gouverneure mit Gesetzen, die Strafgefangene wieder in den Steinbruch schicken oder in Fußketten legen. Die Gefängnisindustrie ist inzwischen zu einer der größten Boombranchen im Land geworden – vor allem in Regionen, die stark von Einsparungen im Rüstungssektor betroffen sind. Die fünfzig amerikanischen Einzelstaaten haben zwischen 1982 und 1992 insgesamt 455 neue Vollzuganstalten gebaut. Jährlich werden 20 Milliarden Dollar für den Betrieb der Gefängnisse ausgegeben – die Mittel für die Bundesgefängnisse nicht mitgerechnet. Kalifornien und Florida geben inzwischen pro Jahr mehr Geld für den Strafvollzug als für das Bildungswesen aus. „Jails are big business“, verkündet die American Jail Association in Anzeigen.

Daß die Kriminalitätsstatistiken mit Ausnahme von Mord seit zwei Jahrzehnten leicht rückläufig sind, nimmt niemand zur Kenntnis. Es paßt nicht in die bewußt geschürte Kriminalitätshysterie. Es paßt auch nicht ins Geschäft. Sind die Zellen erst einmal gebaut, müssen sie auch belegt werden – überproportional mit jungen schwarzen Männern. Jeder dritte Schwarze zwischen 20 und 29 Jahren ist nach Angaben des Sentencing Project, einer Lobbygruppe zur Reform der Strafjustiz, derzeit hinter Gittern oder auf Bewährung.

Mitte des letzten Jahrhunderts galt der Bau von Gefängnissen als modern, als Fortschritt gegenüber körperlicher Züchtigung und öffentlicher Demütigung. Einen Straftäter zu inhaftieren und ihn in der Isloation der Strafanstalt bei harter Arbeit „umzuerziehen“, fand man humaner, als ihn öffentlich auszupeitschen, zu brandmarken oder an den Pranger zu stellen.

Daß der Pranger fast 150 Jahre später wieder als opportunes Strafmittel neben dem Freiheitsentzug auftaucht, ist vor allem der Moralisierung der politischen Debatte geschuldet. „Scham“ ist nicht nur in der Neuen Rechten der USA, sondern auch unter manchen Vertretern des Kommunitarismus ein Modewort geworden. Amitai Etzioni, Universitätsprofessor und selbsternannter „Gründer der kommunitaristischen Bewegung“ mit wachsender Anhängerschaft in Europa, beschreibt in seinem Buch „The Spirit of Community“ öffentliche Demütigung als Strafe für Eigentums- oder Sittendelikte als „billig und schnell“. Es sei ein Mittel, „um den Gemeinschaftssinn“ wiederherzustellen. Was Etzioni dabei mit Vertretern der Neuen Rechten verbindet, ist seine explizite Abneigung gegen „radikale Individualisten“ – allen voran die ACLU. Deren Mandat, die Verteidigung von Grund- und Bürgerrechten, wird zunehmend als „Auswuchs individueller Freiheiten“ denunziert.

Der letzte prominente Demokrat, der sich diesem Druck nicht beugen wollte, war Michael Dukakis, Präsidenschaftskandidat 1988 im Rennen gegen George Bush. Dukakis verlor haushoch – vor allem, weil ihn die Republikaner aufgrund seiner Mitgliedschaft in der ACLU, seiner Opposition gegen die Todesstrafe und seiner liberalen Strafjustizpolitik als „rückgratlos“ hinstellten. Zu Bill Clintons Eigenschaften als „neuer Demokrat“ gehört unter anderem, solche Schwächen nicht zu zeigen.

Mit Aufklärung hat die Debatte über Strafjustiz in den USA folglich nicht mehr viel zu tun. Daran dürfte sich in absehbarer Zeit wenig ändern, wie zuletzt Robert Scott, ein demokratischer Kongreßabgeordneter und unermüdlicher Gegner der übermächtigen Law-and-order-Fraktion im Parlament, feststellte. „Wer nach mehr Gefängnissen und härteren Strafen schreit, unterliegt keinerlei Begründungszwang; wer aber effektive Alternativen fordet, der muß erklären. Und wenn du in der Politik anfangen mußt zu erklären, hast du schon verloren.“