■ Walter Alfred Siebel und sein Psychokult
: Offenkundig gestört

Pastor Walter Alfred Siebel verließ 1980 die Kirchengemeinde Otterstedt und gründete im niedersächsischen Völkersen die „Gesellschaft für Psychopraxie e.V.“. Er behauptete, psychische Störungen eines Menschen an seinem Blutbild erkennen zu können und bot „Logosophie-Beratungen“ an. Neun Jahre später stiegen die ersten seiner „KlientInnen“ aus und berichteten von den Machenschaften des Theologen.

Siebel reiht sich selbst in die Nachfolge von Alfred Adler, C.G. Jung und Sigmund Freud ein und propagiert die „Lehre der Noosomatik und Nooanalyse“. In teuren Intensiv-Seminaren (eine Woche 1.000 Mark) arbeitet er apodiktisch mit dem Kernsatz: „Ich werde dir sagen, wie du richtig denken lernst, wie du richtig fühlen lernst!“ Dann veranlaßt er seine KlientInnen, sich von allen Bezugspersonen (aus der Kindheit) zu trennen. Mit dieser Forderung geht Siebel die Leute aggressiv und ruppig an, was aus der amerikanischen Psychotherapie als „Busting“ bekannt ist.

Siebels Ansatz und Vorgehensweise weisen eindeutige Merkmale des Psychokults auf, bestätigen Fachleute. Auch die „Noosomatik“ entbehre jeglicher wissenschaftlicher Fundierung. Dr. R. M. Waubke, ein Internist aus Unterhaching, kam jüngst zu dem Ergebnis: „Wirrer Unsinn! Nicht wert, daß man sich damit auseinandersetzt. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin oder der Berufsverband Deutscher Internisten wird vermutlich zu einer Stellungnahme überhaupt nicht bereit sein. Siebels Gedankengänge sind zu offenkundig gestört.“

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat Siebel vor einigen Jahren wegen „fehlender sittlicher Zuverlässigkeit“ den Heilpraktikertitel verweigert. Auch dies hat Siebel jedoch nicht am „Erfolg“ gehindert. In den Landkreisen Rotenburg und Verden warf er sein Netz aus, infiltrierte Kinderheime, Beratungsstellen, Nachhilfe-Institute, gründete „Pädagogische Praxen“. Viele AnhängerInnen haben Siebels „Lehre“ inzwischen übernommen. Im Bremer Selbstverlag Glaser und Wohlschlegel (jetzt im Hessischen abgetaucht) veröffentlichte er seine Theorien.

Nach einer Stern-Statistik war die Siebel-Sekte bereits 1989 die achtgrößte Sekte in Deutschland. Heute hat sie sich mit 600 bis 700 AnhängerInnen auf die ganze Bundesrepublik ausgebreitet. Seine KlientInnen kommen in der Regel aus dem gehobenen Mittelstand. Durch regelmäßige Seminare erhält sich Siebel den Zugriff zu ihnen.

Kaum jemand von den bisherigen AussteigerInnen ist bis heute offensiv in die Öffentlichkeit gegangen. Eine Ausnahme ist der Sozialarbeiter Wolfgang Schneider, der inzwischen im Süddeutschen lebt. Siebel sei nach einer „Gehirnwäsche“ sein Guru geworden, Suchtverhalten und Gruppendruck sei entstanden. „Die Wirkungsweise ist wie bei den Scientologen. Das Urteils- und Denkvermögen wird reduziert. Ernsthafte psychosomatische Verwirrzustände bis hin zu Selbstmordgedanken treten auf.“ Schneider ging erst, als Siebel von ihm verlangte, sich von seiner Frau zu trennen. sip

Die taz hatte bereits den religiösen Gemeinschaften/Sekten „Neuapostolische Kirche“ (10.6.) und „Zeugen Jehovas“ (29.6.) gewidmet.