Vom christlichen Blitzkrieg gegen den Satan

Die „Gemeinde Jesu Christi“, der Berliner Ableger der „Boston Church of Christ“, hat großen Zulauf. Der Senat warnt vor der christlich-fundamentalistischen Gemeinschaft, die ihre Anhänger zu striktem Gehorsam verpflichtet  ■ Von Roland Walter

Sonntag nachmittag in der Freilichtbühne des Britzer Gartens. Eine Frau und ihr etwa 13jähriger Sohn sitzten als zufällige Teilnehmer zwischen 700 jungen Leuten und verfolgen den dort stattfindenden Gottesdienst. Plötzlich platzt der Sohn laut heraus: „Mutti, das ist 'ne Sekte!“ Ohne es zu wissen, hat der Junge einen Volltreffer gelandet. Und als sich die Frau außerdem laut über den Inhalt der Predigt aufregt, werden beide schließlich aufgefordert, den Gottesdienst zu verlassen.

Die beiden waren in eine Veranstaltung der „Boston Church of Christ“ geraten, die in Berlin unter dem Namen „Gemeinde Jesu Christi e.V.“ auftritt. Diese „Boston Church“ gilt unter Experten als eine der härtesten christlich-fundamentalistischen Sekten auf dem deutschen Weltanschauungsmarkt. Auch der Sektenbericht des Berliner Senats warnt vor der Gruppe. Keine andere Gruppe kann gegenwärtig solche Zuwachsraten vorweisen wie die Boston Church of Christ, die ihre Mission in Berlin 1991 mit einem Dutzend Leuten begann. Heute trifft man in den Gottesdiensten in der Regel rund 300 Gläubige – fast alle sind unter 30.

Im Juni traf sich die „Gemeinde Jesu Christi“ im Lichtenberger Congress Centrum in der Normannenstraße: Fünf oder sechs Demonstranten verteilen vor dem Gebäude Flugblätter an die herbeiströmenden Grüppchen. Nur wenige von ihnen nehmen die Blätter entgegen, fast immer landet das Papier demonstrativ im Papierkorb, nachdem ein Blick daraufgeworfen wurde. Das Flugblatt ist ein „Aufruf zum Nachdenken“ an die Mitglieder der Gemeinde. Nach kurzer Zeit tauchen aus dem Gebäude einige Männer auf, die fortan in der Nähe der Flugblattverteiler bleiben.

Das Kongreßzentrum ist gefüllt mit jungen Männern und Frauen mit adretten Frisuren und sorgfältiger Kleidung. Alle Gespräche drehen sich um Gott, die Bibel, um tolle Predigten und tolle Erlebnisse in der Gemeinde. Herzlichkeit überall. Die Gottesdienste der Christi-Jünger sind voll, dynamisch, rhythmisch, intensiv. Wie man es aus amerikanischen Kirchen kennt, werden die Massen vom Prediger angefeuert und gehen voll mit. Man darf dazwischenrufen: „Halleluja!“, „Amen!“, „Gib's uns!“, „Ja, predige uns, predige!“

Die Boston Church of Christ wurde in den USA als Abspaltung von den traditionellen Churches of Christ ins Leben gerufen. Ein junger dynamischer Mann mit Namen Kip McKean hatte eine „Discipling“ („Jünger werben“) genannte Methode entwickelt, die zu einem rasanten Anwachsen der Gemeinde führte. Discipling bedeutet, daß jeder Neue unter die Führung eines Mitgliedes der Boston Church gestellt wird. Dieses Mitglied hat ebenfalls einen eigenen Discipler, der wieder einen Discipler hat usw. Das vermutlich einzige Mitglied der Boston Church ohne Discipler ist Kip McKean, der Führer. Diese an und für sich simple Methode zur Kontrolle der Mitglieder dürfte die Ursache für den rasanten Mitgliederzuwachs sein: Niemand will ganz unten auf der Stufenleiter einer Hierarchie stehen, und niemand will sich ständig etwas sagen lassen, ohne selbst etwas sagen zu können. Die einfachste Lösung heißt: Selbst Neue werben.

Vor den Folgen dieser Werbemethoden der Boston Church warnt der Sektenbericht des Senats: „Der dauernde Missionseinsatz bewirkt eine radikale Einschränkung der bisherigen sozialen Bezüge. Das „Prinzip der Unterordnung“ unter die „Zucht Gottes“, die Aufgabe des „unabhängigen Geistes“ und ein rigides Strafsystem sind Elemente, die den einzelnen in große psychische, soziale und finanzielle Abhängigkeit zu der Boston Chruch of Christ führen können.“

Durch intensive Missionsarbeit verbucht die Boston Church in Deutschland und Berlin große Erfolge. Nach Berichten von Aussteigern ist das nächste Missionsteam nach Dresden unterwegs. In Berlin hat die Gemeinde keine festen Veranstaltungsräume, sondern mietet mal einen Tanzklub, dann ein ehemaliges Gewerkschaftsgebäude in Mitte und gegenwärtig eine Adventisten-Kirche in der Koblenzer Straße in Wilmersdorf.

Gehorsam gilt in der Boston Church als christliche Tugend und Unterwerfung als absolute Notwendigkeit. Al Baird, einer der Führer der Boston Church, schrieb im Boston Bulletin, dem Organ der Boston Church: „Wir ergeben uns einer Autorität, nicht weil diese eine Autorität verdient, sondern weil die Autorität von Gott kommt; darum unterwerfen wir uns in Wirklichkeit Gott.“ Und weiter: „Zur Frage geistlicher Führer, die ihre Autorität mißbrauchen. (...) Es gibt keine Möglichkeit, gegen ihre Autorität zu rebellieren.“ Als Beispiel führt man den Mitgliedern an, daß Jesus sich Pontius Pilatus unterworfen hat – und dies würde zeigen, daß Gott auch mißbräuchliche Autorität verwendet.

Der Sektenforscher Jerry Jones zitiert in seinem Buch „What does the Boston Movement teach?“ die Notizen eines jungen Ex-Mitgliedes: Unter der Überschrift „Gehorsam“ schrieb dieser: „Rettung, Herausforderungen, Hoffnung“. Unter „Ungehorsam“ heißt es: „Hölle, Unglück, Verzweiflung, keine Hoffnung, kein Selbstvertrauen“. Der Gehorsam umfaßt durchaus nicht nur rein geistliche Belange, sondern zum Beispiel auch, wie und wo man leben soll, wen man wann zu treffen hat, welche Kurse im Studium belegt werden sollen, und in Extremfällen sogar, wie oft man Sex mit dem Ehepartner haben soll.

Aussteiger warnen vor der Church of Christ auch im Internet: Schon die erste Suche mit einem der gewöhnlichen Recherche- Tools (http://altavista.digital.com/ cgi-bin/query) und dem Suchbegriff „Boston Church“ bringt 200 wenig schmeichelhafte Web-Seiten zutage. Es finden sich Aussteigerberichte von Singapur bis USA, in denen immer wieder von Gedankenkontrolle die Rede ist, von rigiden Vorschriften, von extremen Eingriffen in die Persönlichkeit und von Befehl und Gehorsam.

Die Berichte von Aussteigern in Deutschland zeichnen ein ähnliches Bild. Eine junge Frau erzählte, daß sie aufgefordert wurde, das Geld für die Kollekte notfalls auch über eine Blutspende zu beschaffen. Mitglieder der Berliner Gemeinde verteidigten auf der Zusammenkunft im Juni diese Praxis: „Es ist doch in Ordnung, wenn man seinen Körper für Gott einsetzt“, heißt es. Aussteiger berichten auch, daß der Zeitplan der Gemeindemitglieder sehr eng ist: Frühmorgens eine einstündige „Kraftzeit“, in der die Bibel gelesen und gebetet wird, nach der Arbeit entweder ein Bibelstudium oder ein Gemeindeabend oder ein Hausbibelkreis. Praktisch die ganze Woche ist verplant und die Teilnahme an den Veranstaltungen ist Pflicht. Frauen dürfen keine leitenden Funktionen in der Boston Church bekleiden. Bis 1986 war es Frauen nicht erlaubt, eine Partnerschaft von sich aus zu beginnen. Auch heute noch gelten rigide Regeln der Gemeinschaft für das Kennenlernen zwischen Männern und Frauen.

In ihrer Außendarstellung gelang der Boston Church 1985 allerdings ein kapitales Eigentor: Um der Kritik zu begegnen, die Gemeinschaft sei eine destruktive Sekte, gab man bei einem unabhängigen Experten eine Studie in Auftrag. Die amerikanische Presse und CAN berichteten über deren Ergebnisse: Es wurden Persönlichkeitstests bei 900 Mitgliedern der Gemeinde durchgeführt, bei denen sich unter anderem eine extreme Veränderung im Persönlichkeitstyp zeigte, der normalerweise das ganze Leben über relativ stabil bleibt. Außerdem fand man heraus, daß sich fast alle Mitglieder der Gemeinde in einem oder zwei der sechzehn Grundtypen nach C. G. Jung häuften – normalerweise sind die Persönlichkeitstypen gleichmäßig verteilt. Diese unnormalen Persönlichkeitsveränderungen werden von Psychologen als die Ursache für Zusammenbrüche und schwerwiegende Probleme mit Persönlichkeitsspaltungen angesehen. Derart extreme Veränderungen kennt man sonst eigentlich nur von Gruppen wie Scientology, den Kindern Gottes oder der Moon- Sekte.

Der Autor ist Ausstiegsberater beim Sektenarchiv der Umweltbibliothek