Ein Blick zurück nach vorn

Mit der Pariserin Catherine David leitet zum ersten Mal eine Frau die documenta, Deutschlands Megaschau der internationalen Kunst  ■ Aus Kassel Stefan Koldehoff

Ein repräsentatives Büro sieht anders aus als dieses: ein winziges Zimmerchen mit Blick auf Mauern, darin ein überladener Schreibtisch aus Holz, einfache Bücherregale, die sich unter der Last schwerer Bildbände biegen, und eine altersschwache Hängeregistratur. Auf dem Boden stehen Plastiktüten aus dem Duty- free-Shop, aus denen weitere Künstlermonographien quellen. Bilder hängen nicht an den Wänden, statt dessen Telefaxe und das Logo der kommenden documenta, ein schwarzes „d“, das von einer grellroten römischen Zehn durchgestrichen zu werden scheint.

Catherine David war in ihrem Kasseler Büro, aus dem sie bald in größere Räume umziehen wird, bislang ohnehin eher selten anzutreffen. Die künstlerische Leiterin der zehnten Weltausstellung der Kunst ist mit ihrer Assistentin Hortensia Völckers nach wie vor hauptsächlich unterwegs, um in Wien KünstlerInnen zu treffen, in Hamburg einen Film über Lumumba und in Madrid die erste Ausgabe der von ihr herausgegebenen „documenta documents“ vorzustellen. Zwischendurch ruft Catherine David ihre engsten MitarbeiterInnen zu regelmäßigen mehrtägigen Klausurtagungen zusammen, auf denen neben den inhaltlichen auch die formalen Aspekte der Großausstellung erarbeitet werden. Auf einer der letzten Sitzungen wurde etwa entschieden, daß mit dem architektonischen Konzept der kommenden documenta eine Wiener Architektengruppe beauftragt werden soll.

Über sich selbst spricht Catherine David nicht gern – ihre Arbeit soll im Mittelpunkt stehen, nicht ihre Person. 1954 in Paris geboren, arbeitete die studierte Literatur-, Sprach- und Kunstwissenschaftlerin ab 1981 neun Jahre am Musée National d'Art Moderne im Centre George Pompidou, lehrte gleichzeitig an der Ecole du Louvre und wechselte schließlich 1990 an die Galerie Nationale du Jeu de Paume.

Die Frau an der Spitze der documenta – ein Fehler?

Mit Ausstellungen von und über Marcel Broodthaers und Suzanne Lafont, Eva Hesse und Pier Paolo Calzoni und Projekten zum brasilianischen und israelischen Film machte sie aus dem verschlafenen ehemaligen Impressionisten-Museum in den Pariser Tuilerien eines der wichtigsten Institute für die zeitgenössische Kunst. Im April 1994 dann berief die internationale Findungskommission Catherine David zur künstlerischen Leiterin der zehnten documenta.

Erst im Juni 1997 öffnet die alle fünf Jahre stattfindende Megaausstellung die Tore. Schon jetzt scheint aber für nicht wenige Kritiker festzustehen, daß es ein Fehler gewesen sei, zum ersten Mal eine Frau mit der Leitung des 20- Millionen-Unternehmens zu beauftragen. Zu schwach sei die 42jährige, den Widernissen des Kunstmarktes zu widerstehen; zu gering sei die Bereitschaft der introvertierten Frau, die Existenzberechtigung des Millionenprojekts documenta auch in Zeiten massiver öffentlicher Sparmaßnahmen offensiv nach außen zu vertreten. Denn Catherine David ist so ganz anders als ihre bislang ausnahmslos männlichen Vorgänger, besonders, wenn man sie mit dem unmittelbaren vergleicht. Der Belgier Jan Hoet hatte 1992 in Kassel einen Jahrmarkt der Beliebigkeiten inszeniert, für dessen Publikumswirksamkeit ihm keine PR-Aktion zu blöde war: Pressekonferenzen in Spielkasinos gehörten ebenso zu Hoets Repertoire wie ein Boxkampf, für den der Kunstclown selbst in den Ring stieg. Zumindest der wirtschaftliche Erfolg gab ihm recht: 605.000 Menschen sahen die „d9“, mindestens 500.000 sieht der Wirtschaftsplan der documenta GmbH für 1997 vor.

Catherine David verweigert sich trotzdem nach wie vor konsequent dem Medienzirkus, scheint sich vor Mikrophonen und im Scheinwerferlicht beinahe körperlich unwohl zu fühlen. Folglich wurde ihre zurückhaltende und nicht immer geschickte Medienpolitik bisweilen als Feigheit ausgelegt. Den ersten Krach gab es um das pfiffige Logo. An nationalsozialistische Farb- und Formsprache erinnerte es die einen, respektlos und das ganze Unternehmen documenta in Frage stellend empfanden es die anderen KritikerInnen.

Als sich David mit dem inzwischen finanziell abgefundenen damaligen Geschäftsführer Roman Soukup über bereits unterschriftsreif ausgehandelte Sponsorenverträge mit dem Elektronikkonzern Sony in die Haare geriet und Sony eine 2,5-Millionen-Zusage zurückzog, wurden erstmals Forderungen nach einer Abberufung der documenta-Chefin laut. Das Hamburger Blatt Die Woche ließ den emeritierten Kasseler Stadtplanungs- Professor und Möchtegerninsider Lucius Burckhardt als „documenta-Experten“ auf einer kompletten Seite begründen, warum seiner Meinung nach Catherine David dringend ein Direktoren-Gremium an die Seite gestellt werden müsse: „Etwa 50 Einladungen müßten ergehen mit der Aufforderung, binnen drei Monaten ein Konzept und eine Künstlerliste vorzulegen.“ Ein Konzept und eine vollständige Liste gibt es bis heute nicht, und das ist gut so.

Am lautesten schreit nach dem Katalog der teilnehmenden KünstlerInnen nämlich der Kunsthandel. Denn die documenta-Teilnahme gilt unter Kunstschaffenden als Lizenz zum Gelddrucken: Weitere Ausstellungen sind garantiert, die Preise steigen um ein Vielfaches. Catherine David beeindruckt das kaum: „Über die Medien gibt es eine permanente Geräuschkulisse, und es findet eine ständige Agitation statt. Es gibt angemessene Erwartungen und unehrliche. Ob ich allerdings darauf reagiere oder einfach nur ganz ruhig weiterarbeite, hängt davon ab, von wem diese Erwartungen kommen.“

Als ausweichend gilt die 42jährige, als unkonkret und vergeistigt. Tatsächlich weiß Catherine David recht genau, was sie in Kassel erreichen und welchen Entwicklungen sie sich entziehen will. Von einer „Retroperspektive“, einer vorausschauenden Bestandsaufnahme als „Blick zurück nach vorn“, spricht sie dann, und von der documenta als Labor: „Das ist keine wissenschaftliche Metapher. In der Wissenschaft gibt es das Kriterium der Wahrheit. In der Ästhetik geht es aber nicht darum, die Wahrheit zu finden, sondern bestimmte Ausdrucksformen. Ein gutes Kunstwerk nennt man ja auch eher ,begründet‘ als ,wahr‘. Und dann soll mit diesem Begriff des Labors natürlich auch die Einstellung des immer passiveren Kunstkonsums beendet werden. Die ästhetische Arbeit soll nicht still und friedlich der ganzen Welt Vergnügen bereiten. Es geht darum, Dissens zu schaffen, Fragen beizubehalten und nicht hübsch und niedlich zu sein.“

Das Werk steht also nicht länger im Mittelpunkt. Andere Einstellungen sind für Catherine David an seine Stelle getreten.: „Wir leben in einem Regime, das nicht länger eine Demokratie, sondern längst eine Mediakratie geworden ist. Obwohl es allgemein offenbar gar nicht mehr für wichtig gehalten wird, ist ein wichtiges Kriterium für die Qualität eines Kunstwerkes für mich das Vorschlagen von Formen und Haltungen, die nicht die bestimmenden Haltungen in der Öffentlichkeit oder im Fernsehen sind. Anders als die immer schnelleren Medien hat die Kunst nicht die Aufgabe, auf Mängel zu reagieren oder für eine soziale Pomade zu sorgen.“

Kunst muß nicht für soziale Pomade sorgen

Als Happening, als soziales Statusereignis hat sich die Kasseler Megaausstellung längst überlebt; Catherine David allerdings scheint auf dem besten Weg, dem Dinosaurier documenta als kulturelles Versuchslabor, als Verweigerung und als gesellschaftliche Zustandsbeschreibung eine neue Existenzberechtigung zu erarbeiten.