Der Präzendenzfall Bonhoeffer

Das Berliner Landgericht prüft, ob es die Nazi-Urteile gegen den Theologen Bonhoeffer und die Männer des 20. Juli aufheben kann. Die Annullierung hätte weitreichende Folgen  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Kein demokratischer Jurist wird bestreiten wollen, daß die Todesurteile von Freislers Volksgerichtshof gegen die Männer des 20. Juli 1944 und die der vielen SS-Standgerichte gegen Widerständler in ihrem Umkreis „Unrechtsurteile“ waren. Dennoch: Auch heute, 52 Jahre danach, sind sie vermutlich immer noch rechtsgültig, weil keine Staatsanwaltschaft von sich aus ein Aufhebungsverfahren in Gang gesetzt hat.

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, nach einem Standgerichtsurteil gehängt am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg, Oberpfalz, gilt also – rein juristisch gesehen – immer noch als vorbestraft. Den SS- Richter Otto Thorbecke, der den Vorsitz führte, sprach der Bundesgerichtshof hingegen 1956 frei. Er habe nur das damals geltende Recht angewandt.

Nun soll auch Bonhoeffer, der im Unterschied zu seinem Richter nichts mehr davon hat, nachträglich freigesprochen werden, das heißt, sein Todesurteil soll annulliert werden. Die für NS-Urteile zuständige Berliner Generalstaatsanwaltschaft hat bei der 17. Kammer des Landgerichts ein Wiederaufnahmeverfahren in Gang gesetzt. Sie hat dies aufgrund von Initiativen von DDR-Bürgerrechtlern und von Studenten der Evangelischen Hochschule in Hannover getan, die im Frühjahr gemeinsam mit ihrem Professor Karl-Heinz Lehmann ein entsprechendes Rechtsgutachten erstellten.

Die Aussichten, daß Bonhoeffer rehabilitiert wird, und zwar noch im „Juli oder August“, so der Justizsprecher Rüdiger Reiff, stehen gut. Erst vor kurzem kassierte die bundesdeutsche Justiz das nationalsozialistische Urteil gegen den seliggesprochenen Priester Karl Leiser. 52 Jahre danach rehabilitiert die Justiz sich also eigentlich selbst.

Aber auch dies ist nicht ganz einfach. Das Berliner Landgericht prüft nämlich schon seit Monaten, ob es für die mögliche Annullierung des Todesurteils gegen Bonhoeffer überhaupt zuständig ist. Denn noch gilt das am 5. Januar 1951 erlassene Landesgesetz „zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“. Nach diesem Gesetz können nur Urteile, die ein Berliner Gericht gesprochen hat, oder Urteile über „Straftaten“, die in Berlin begangen worden sind, auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder von Angehörigen aufgehoben werden. Bonhoeffer wurde aber in der Oberpfalz, also in Bayern, verurteilt. Und da gibt es ein besonderes Problem: Denn Bayern erließ schon am 28. Mai 1948 ein Gesetz, wonach „politische Taten, durch die dem Nationalsozialismus oder Militarismus Widerstand geleistet wurde“, nicht strafbar sind.

Eventuell kommt also das Berliner Landgericht in diesen Wochen zum Schluß, daß Bonhoeffer tatsächlich schon seit 1948 nicht mehr vorbestraft ist, auch wenn niemand eigens den Antrag gestellt hat. Ihm bleibt dann nur noch ein entsprechender Feststellungsbeschluß, der dennoch interessant ist. Denn um Bonhoeffer individuell und offiziell rehabilitieren zu können, muß es sich mit dem BGH-Urteil von 1956 gegen seinen Richter auseinandersetzen. Mit dem Urteil, das durch den Freispruch für Thorbecke Bonhoeffer de facto ein zweites Mal verurteilte.

Ein Rehabilitationsspruch für Bonhoeffer wird obendrein Präzedenzwirkung haben. Denn in Flossenbürg wurde nicht nur Bonhoeffer gehängt, sondern mit ihm – und vom gleichen Sondergericht abgeurteilt – die Männer im Umkreis des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944, Abwehrchef Wilhelm Canaris, Generalmajor Hans Oster, Hauptmann Ludwig Gehre und der Heeresrichter Karl Sack. Auch für sie hat die Berliner Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Urteile beantragt, sofern sie nicht ebenfalls unter das bayerische „Wiedergutmachungsgesetz“ von 1948 gefallen sind. Auch bei ihnen muß das Gericht die Rechtsprechung von 1956 mit berücksichtigen.

Für den Fall, daß Bonhoeffer, Canaris und andere seit 49 Jahren tatsächlich nicht mehr „vorbestraft“ sind, hat das Berliner Landgericht dennoch viel „wiedergutzumachen“. Denn bis heute ist ungeklärt, ob die unbestritten in Berlin gefällten Freisler-Urteile gegen Erich von Witzleben, Erich Hoeppner, Graf York von Wartenberg und 85 andere Widerständler, die ab August 1944 im Gefängnis Plötzensee gehängt wurden, tatsächlich kassiert wurden. Oder überhaupt eines der etwa 5.000 im Zusammenhang mit dem 20. Juli verkündeten Todesurteile. Derzeit durchforstet die Berliner Justiz alle Gerichtsregister ab 1951 danach, ob Nachkommen der Hingerichteten oder die Staatsanwaltschaft selbst Anträge auf Annullierung der Terrorurteile gestellt haben. „Tausende Urteile können noch gültig sein, nur weil sie niemals aufgehoben worden sind“, meint Pressesprecher Reiff.

Praktische Folgen haben die Versuche, die Todesurteile auch juristisch zu annullieren, für niemanden mehr. Die Männer des 20. Juli sind schon längst staatlich anerkannte Widerstandskämpfer. Dies im Unterschied zu den Deserteuren und den Tausenden, die von Wehrmachtsgerichten verurteilt wurden und dafür bis heute Renteneinbußen hinnehmen müssen. Nur die allerwenigsten von ihnen wurden bis heute als NS-Verfolgte offiziell anerkannt.

Die Hannoveraner Gruppe setzt sich deshalb nicht nur für eine Rehabilitierung von Bonhoeffer ein, sondern auch exemplarisch für einen Wehrmachtsdeserteuer. Dieser wurde wenige Tage nach Kriegsende von einem deutschen Sondergericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Mit der Anfechtung des Urteils wollen die Studenten und ihr Juraprofessor Lehmann den überlebenden Opfern der NS-Justiz und deren Angehörigen Mut machen, ebenfalls vor Gericht für eine Aufhebung der Urteile zu streiten. Schließlich könne man den Betroffenen nicht zumuten, für ihre Rehabilitierung bei den Politikern „auf Knien zu betteln“, meint Lehmann.

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