Sie eiern wacker immer weiter!

Was treibt die Jugend der Welt, ihre Leben in Krafträumen zu verschwitzen? Um eines schwülfeuchten Olympiamorgens im ersten Vorlauf auszuscheiden?  ■ Von Fritz Eckenga

Rudern ist garantiert eine der extremsten olympischen Sportarten. Die Experten sagen, daß die Athleten auf den ersten 1.500 Metern der Regattastrecke schon alles geben. Aber was heißt das schon – „alles geben“? Die physischen Möglichkeiten bis zur Neige ausschöpfen, das Letzte aus dem Körper rausholen oder, wie die Sportler sagen, „sich auspumpen bis zum Kotzen“.

Gut, jetzt haben die Ruderer auf den ersten eineinhalb Kilometern also bereits alles gegeben. Gekotzt hat aber noch keiner. Gerade in den Booten ab zwei Riemenreißern aufwärts wäre das im übrigen auch eine auf Dauer kaum zumutbare Belastung für die vorne sitzenden Sportskameraden. Insbesondere die kleinwüchsigen Steuerleute hätten dann ja wohl allen Grund, die Disziplin zu wechseln.

Da Zwergenweitwerfen trotz wiederholter Petitionen des australischen Zwergenwurfleistungsausschusses leider immer noch nicht olympisch ist, gäbe es für des Ruderns überdrüssige Steuerleute keine Möglichkeit, an den Wettkämpfen der Jugend der Welt teilzunehmen, da sie ja nichts gelernt haben als Boote geradeaus zu lenken und „PULL!“ zu schreien.

Darüber aber müssen sich die Steuerleute keine Gedanken machen. Keiner der muskelbeschichteten Allesgeber zeigt bereits an der 1,5-km-Marke irgendwelche Anzeichen unkontrollierter Magen-Darm-Motorik. Im Gegenteil – es gilt schließlich noch fünfhundert Meter Endspurt hinzulegen –, jetzt wird sogar noch die Schlagzahl erhöht. Die Experten sagen, daß die Athleten das letzte Viertel der Strecke im Unterbewußtsein zurücklegen, daß sie durch einen schwarzen Tunnel fahren, solange, bis die Zielsirene den pawlowschen Aufhöreffekt auslöst. Erst dann gibt sich auch der unterhalb des bewußtseintragenden Körperteils angebrachte Ruderrest der Umnachtung hin, sackt in sich zusammen, saugt bebend Luft in sich hinein und meldet offensichtlich gellend Alarm an das nach und nach wieder Gefühle entschlüsselnde Schmerzzentrum. Anders jedenfalls sind die jedem Geisterbahndesigner als Modelliervorlagen zu empfehlenden Sportlergesichter nicht zu deuten.

Warum tun sich Menschen so etwas an? Was treibt Hunderttausende dazu, die Blüte ihres Lebens in Krafträumen, Trainingscamps, auf Massagebänken und Dopingschwarzmärkten zu verschwitzen, unzählige Rudel innerer Schweinehunde zu besiegen, endlose Qualifikations- und Auslesetouren zu absolvieren, um letztendlich als glücklich Ausgesiebte an einem schwülfeuchten Olympiamorgen in Atlanta um sieben Uhr zwölf im ersten Vorlauf auszuscheiden?

Die kleingeistigen Neidhammeln zuerst aus den Köpfen fallende Antwort „Ruhmsucht und Geldgier“ kann man getrost vernachlässigen. Mal gerade einige Handvoll Leute wie Gwen Torrence und Carl Lewis haben die Chance, ihre Olympia-Erfolge als hochdotierte adidas- oder Nike- Models zu verwerten.

Die breite Masse der sich für den Höhepunkt ihrer Sportlerlaufbahn marternden Olympioniken aber tritt in für die umsatzorientierte Sportartikelindustrie eher irrelevanten Disziplinen an. Oder hat man jemals gehört, daß Goldmedaillengewinner im Kleinkaliberdreistellungskampf oder Olympia-Zweite im Freistilringen der Gewichtsklasse bis 57 kg (Bantam) als Imagetrainer, also Sportsware- Kleiderständer unter Sponsorvertrag genommen wurden? Und auch die so gar nicht medientaugliche Extremsportart Rudern hat wohl noch keinem Athleten zu einem von materiellen Sorgen befreiten Nachrudererleben verholfen. Wiewohl hier das finanzielle Engagement eines deutschen Speiseeisherstellers gelobt werden muß, der durch seine milde Gabe aus dem von Generationen national empfindender Sportreporter angehimmelten „Deutschland- Achter, das Flaggschiff unserer Ruderflotte“ einen doch sehr angenehm undeutsch klingenden „Langnese-Achter“ gemacht hat.

Doch auch die sehr wahrscheinliche Gratisbelieferung der Goldjungs mit Magnum lebenslänglich kann als Motivationsgrundlage fürs jahrelange „Auspumpen bis zum Kotzen“ nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden. Also muß ja wohl insbesondere die Randspitzensportler etwas gänzlich anderes antreiben als profaner Geschäftssinn. Schlicht formuliert ist es wahrscheinlich der Ehrgeiz, etwas besser können zu wollen als andere, wenigstens aber es besser zu können, als man es sich selbst jemals zugetraut hätte. Und auch die Wissenschaft hat in ihrer etwas hochnäsigeren Art festgestellt, daß sich „...der Sportler durch das Erlernen und Beherrschen schwieriger sportlicher Bewegungen die Welt und den eigenen Leib erschließt. Er erarbeitet sich neue Varianten des Selbstausdrucks, der Welt- und Selbstbewältigung sowie der Selbstbewährung“ (Hans Lenk).

Nirgendwo ist das grandiose Ausmaß dieses sportlichen Weltbewältigungsstrebens so „total absolut“ (Steffi Graf) zu besichtigen wie bei Olympia. Nur hier erhalten die am topaktuellen Stand der zur Zeit gültigen Selbstausdrucksvarianten Interessierten einen ebenso kompakten wie erdflächendeckenden Überblick. 1.500 Stunden lang werden die großen Fernsehsender sämtliche Spielarten moderner olympischer Leibeserschließung von den USA nach Deutschland übertragen. 1.500 Stunden, die unter optimal genutztem Einsatz von Videoaufzeichnungstechnik ein 62,5 Tage währendes Alternativ- Anschauungsprogramm für alle ergeben, die mit dem Beherrschen dreier Fernbedienungen gleichzeitig ihr Soll an zeitgeistgerechter Selbstbewährung in ausreichendem Maß abgedeckt sehen.

Das ausdauernde Betrachten des olympischen Panoptikums kann darüber hinaus eine durchaus tröstende, ja heilende Wirkung entfalten. All den Millionen, die auf der Suche nach sich selbst und dem Sinn ihres Daseins nicht einmal in den Regalen des Esoterikzubehörhandels eine Machete gefunden haben, die ihnen eine Bresche in das Dickicht des Lebensgestrüpps schlägt, all diesen Mitleidverdienenden sei das olympische Fernsehprogramm als psychische Sehhilfe in voller Länge verordnet.

Hier werden sie die ermutigende Erfahrung machen, daß es anderen mühselig Beladenen auch nicht besser, nein, ganz offensichtlich sogar noch viel dreckiger geht.

Denn welche seelischen Grausamkeiten müssen junge Frauen schon in frühester Kindheit durchlitten haben, um beispielsweise im Erlernen und Beherrschen der olympischen Disziplin Synchronschwimmen therapeutische Hilfe zu suchen? Welch unvorstellbar grauenhaften Schattenreichen versuchen jene zu entfliehen, die in der Sportart Gehen solange auf der Stelle treten, bis ihnen die verbogenen Oberschenkelhälse durch die Haut ratschen? „Lauft!“ möchte man ihnen flehentlich zurufen, „oder noch besser, nehmt Fahrräder!“ Aber nein, sie eiern wacker weiter über Stock und Stein, unablässig auf der unansehnlichen Suche nach einer neuen Variante des Selbstausdrucks. Und welche schicksalssatten Biographien verbergen sich in den Gewichtheber gewordenen Proteingebirgen, in den laborgezogenen, wirbellosen Schwebebalkenturnerinnen oder in sogenannten Dressurreitern, die in Frack und Zylinder wehrlose Kreaturen zu widernatürlichen Verrenkungen anhalten?

Sich das und alles andere anzuschauen ist bestimmt eine der extremsten olympischen Herausforderungen. Man muß wahrscheinlich alles geben, die physischen Möglichkeiten bis zur Neige ausschöpfen und das Letzte aus dem Körper herausholen. Man sollte sich vielleicht nicht gerade auspumpen bis zum ..., obwohl das den gewünschten kathartischen Effekt durchaus unterstützen könnte.

In diesem Sinne: Laßt uns ehrenhafte Kämpfer sein!