Vorhang auf für die Megalympics 1996

Alter unsterblicher Geist, erhabener Vater / des Schönen, des Großen und des Wahren, / steige herab, offenbare dich und leuchte hienieden / im Schimmer deiner Erde und deines Himmels

Daß jener Geist, den die olympische Hymne so elegisch beschwört, letzte Nacht in Atlanta und nicht in Athen niederging, hätte vor sechs Jahren kaum jemand geglaubt. Die Jahrhundert- Olympiade, das war keine Frage, würde nirgendwo anders als an der Geburtsstätte der antiken wie der modernen Spiele gefeiert. So hatten nicht nur die Griechen gedacht, sondern alle olympischen Romantiker, die die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt hatten. Doch dann vergab das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Sommerspiele des Jahres 1996 nach Atlanta, dem Hauptsitz eines großen Limonadenfabrikanten. Die wutentbrannte griechische Kulturministerin Melina Mercouri prägte das Wort von den „Coca-Cola- Spielen“, und der Finanzier der Athener Bewerbung, der millionenschwere Spyros Metaxa, drohte gar damit, das olympische Feuer nicht herauszurücken.

Coca-Cola-Spiele statt Branntweinspiele also, und mancher griechische Bürger, der damals schäumte vor Zorn, dürfte heute dem olympischen Geist danken, daß dieser Kelch an seinem Land vorübergegangen ist. Denn die auch von Berliner Olympiabefürwortern verbreitete Mär von der segensreichen Wirkung olympischer Spiele auf die Austragungsstadt ist längst als frommer Wunsch entlarvt, was an Atlanta gut zu erkennen ist.

Georgias Metropole hatte nämlich nicht nur mehr Geld in seine Kampagne investiert – eine IOC- Stimme soll 200.000 Dollar gekostet haben –, sondern auch die weit bessere Bewerbung zu bieten. Während das von Smog und Verkehrschaos geplagte Athen über so gut wie nichts verfügte, was eine Olympiade heute erfordert, besaß Atlanta jede Menge Sportanlagen, Hotels und eine brauchbare Infrastruktur. Beste Voraussetzungen für großen Reibach, doch den macht bei Olympia immer nur das IOC.

„Jahrzehntelang“ werde Atlantas Bevölkerung von der Veranstaltung profitieren, versprach Organisationschef Billy Payne, den die Idee der Bewerbung angeblich am Frühstückstisch überfallen hatte. Doch dann rieb er sich – für 680.000 Dollar im Jahr und um den Preis zweier Herzanfälle – dabei auf, Geld für seine Spiele zu beschaffen. Stadt und Staat beteiligten sich trotz enthusiastischer verbaler Unterstützung nur zögerlich an der Finanzierung, die Sponsoren knauserten, sie boten eher Dienstleistungen als Dollars, und sobald Payne eine neue Masche der Geldakquise auftat, stand auch schon das IOC auf der Matte, hielt die Hand auf und verlangte den Löwenanteil für sich.

Olympische Spiele in der Ära Samaranch bedeuten, daß eine Stadt die ganze Arbeit macht und alles bezahlt, während den Profit das IOC einstreicht. Bezeichnend, daß die Olympier kurz vor Beginn der Spiele auch noch herumnörgelten, weil ihnen Billy Payne, dem immer noch 100 Millionen Dollar fehlten, mit seinen Gebettel mächtig auf die Nerven gegangen war. Künftig sollen die Spiele nur noch dort stattfinden, wo sich Kommune, Land oder Staat verpflichten, für alles aufzukommen. Nicht zuletzt Berlin hat gezeigt, daß es auch dann noch Städte geben wird, die töricht genug sind, sich auf das olympische Roulette mit gekappter Gewinnchance einzulassen.

Die ärmeren BürgerInnen der Hauptstadt von Georgia mußten längst ihre anfänglichen Hoffnungen begraben, daß auch sie von Olympia profitieren könnten. Vor allem die afroamerikanische Einwohnerschaft hat nur noch Hohn für die einstigen Versprechungen der Organisatoren, die sich bei der Bewerbungskampagne schamlos des Namens von Martin Luther King bedienten und Atlanta, das einstige Herz der Sklavenhaltergesellschaft, dreist zur „Hauptstadt der Menschenrechte“ ausriefen. Jobs gab es zwar in den letzten Monaten genug, aber schlecht bezahlt und ohne soziale Absicherung. In zwei Wochen ist es damit vorbei, und von den zuletzt prognostizierten 4,1 Milliarden Dollar Gesamtumsatz – es sollten schon einmal 5,1 Milliarden sein – wird fast nur die Schicht der weißen Geschäftsleute profitiert haben.

Andere können sich glücklich schätzen, wenn es ihnen nicht schlechter geht als zuvor, so wie den BewohnerInnen von Techwood: Sie mußten dem Olympischen Dorf weichen und haben noch keine neue Bleibe gefunden. Oder die Leute in Summerhill, deren am neuen Olympiastadion gelegener Stadtteil in ein Potemkinsches Dorf verwandelt wurde: Die Stadtverwaltung ließ nur jene Häuser renovieren, die ein Kameraschwenk vom Stadion aus erfassen kann. Den olympischen Geist, „Vater des Schönen, Großen und Wahren“, hätte man so nicht täuschen können. Aber der wurde wahrscheinlich längst in einem Geldschrank des IOC eingesperrt. Matti Lieske, Atlanta