Die Geschichte einer zerschnittenen Papsturkunde

■ Über einen Schatz im Tresor von St. Johann / Ohne Protektion lief auch im Mittelalter nichts von Wilhelm Tacke

er meint, Recyceln sei etwas Modernes, der täuscht sich, beziehungsweise fällt auf den englischen Anstrich des Fremdwortes herein, denn vom Recyceln verstand man bereits im Mittelalter was.

Beispiel gefällig? Bitte sehr: Davon gibt es ein sehr überzeugendes im Tresor der Sakristei der Propsteikirche St. Johann. Dort lagert nämlich wohl verwahrt ein Exemplar des Missale Bremense, also des Bremer Meßbuchs von 1511. Das Buch ist im Laufe der Jahrhunderte ein bißchen aus dem Leim gegangen, und damit wären wir schon beim Thema.

Doch zuvor ist eine allgemeine Bemerkung zum Thema Buch fällig. Im Mittelalter kaufte man das Buch nämlich nicht fix und fertig. Es wurde vielmehr aus Heringstonnen auf Märkten ohne Einband verkauft. Der Käufer sorgte dann, je nach Geldbeutel, für einen mehr oder weniger prächtigen Einband.

So auch Johannes EIers, Hebdomadar am Bremer Dom, also Kleriker mit der Verpflichtung, in einer bestimmten Woche die Konventsmesse zu feiern, und Vikar am Altar des St. Loi in Unser Lieben Frauen Kirche. Selbiger half aber wohl seinerseits ein wenig nach, als es darum ging, die Kosten für den Einband so gering wie möglich zu halten. Und dafür gab es sowohl am Dom als auch in der „Tresenkammer“ des Rats, im Turm von Unser Lieben Frauen Kirche, genug Rohmaterial zum Recyclen. Denn Urkunden wurden in diesen beiden frühen Bremer Archiven durchaus nicht ewig aufgehoben. Auch dann nicht, wenn es sich um sogenannte Papsturkunden handelte. Und eine solche besorgte sich Johannes Elers, ließ sie mitten durchschneiden und mit der beschrifteten Seite nach unten auf den Einband kleben. Dort klebte sie wohl noch heute, wäre das Missale nicht irgendwann aus dem Leim gegangen.

Das ließ wiederum den geschichtsbewußten Pastor primarius und späteren Dechanten Friedrich Hardinghaus nicht ruhen. Er ließ 1928 im Geheimen Staatsarchiv in Berlin die beiden Pergamentteile untersuchen und dort fand man heraus: Es handelt sich um zwei Teile einer Papsturkunde aus dem Jahr 1418. Mit anderen Worten, um eine Urkunde, die der Papst selbst niemals gesehen hat, die aber in seinem Namen ausgefertigt und mit seinem Wappen in Blei gesiegelt wurde.

Mit dem Namen des Papstes beginnt die Urkunde auch. Sie wurde unter Papst Martin V. (1417-1431) während der Zeit des Konstanzer Konzils ausgefertigt. Martin V., mit bürgerlichem Namen Oddo Colonna, wurde in Konstanz gewählt, nachdem die rivalisierenden Gegenpäste Johannes XXIII. und Benedikt XIII. abgesetzt und Gregor XII. abgedankt war. Und damit wären wir wieder bei der Urkunde.

Die entstammt der Apostolischen Kanzlei, einem Betrieb mit rund 100 Schreibern, wie Prof. Dr. Tilmann Schmidt von der Universität Rostock weiß, mit einem jährlichen Ausstoß von 5.000 bis 6.000 Briefen, bzw. Urkunden. „Während des Konstanzer Konzils 1414-1418“ sei die Zahl aber „sicher geringer“ gewesen. Schmidt war am 8.7.96 in Bremen, um sich die dortigen Papsturkunden anzusehen, die sein Forschungsgebiet sind.

Er weiß zu berichten, daß die Mitarbeiter der Apostolischen Kanzlei über das „Sportelsystem“ besoldet wurden. Das heißt, sie wurden für ihre Arbeit von dem entlohnt, für den sie beispielsweise eine Urkunde ausstellten. Von einer Entlohnung nach Leistung für Beamte träumt ja auch heute so mancher Politiker. – Der Urkundenliebhaber zahlte übrigens auch für Pergament und Siegelblei.

Um im Mittelalter an eine derartige „Papsturkunde“, heranzukommen, benötigte man zunächst einmal die Hilfsdienste eines „Prokurators“, das heißt, „eines Privatunternehmers“, so Prof. Schmidt, „der sich in der Kurie auskennt“. Er weiß, welche Formeln in der entsprechenden Urkunde zu stehen haben und er verfaßt für den Hilfesuchenden ein „Supplik“, das heißt ein Hilfeersuchen in der betreffenden Sache, an den Papst. Letzterer sieht diese normalerweise nie, sie landet im besten Falle bei einem der Apostolischen Protonotare. Und der veranlaßt nun wiederum die Ausfertigung der Urkunde.

Fragen wir uns, weshaIb der Stiftsherr Gottfried Becker sich derartig ins Zeug legt, um in Konstanz an eine Papsturkunde zu kommen, so muß man sich vor Augen führen, daß die Besoldung der Kleriker im Mittelalter nicht zentral von der Diözese über Gehaltskonten ging, sondern über Pfründen. Meistens geht es dabei um den „Nutzen“ aus einem auf Lebenszeit geliehenen Stück Land oder um die Einkünfte aus einer Pfarrei.

Ein solches Amt nebst Pfründe wird auch vermittels der zerschnittenen Papsturkunde angestrebt. Hierin beauftragt, laut Text, Papst Martin V. den Titularbischof von Frigento, sowie die Dekane von St. Willehad in Bremen und St. Johann in Osnabrück mit der Einführung des Stiftsherrn von St. Nikolaus in Beuster, Bistum Verden, Gottfried Becker. Beuster liegt im Landkreis Osterburg in der Altmark, heute Sachsen-Anhalt. Dieser wird nämlich mit dieser Urkunde für ein freiwerdendes Beneficium (=Pfründe) providiert (d.h. vorgesehen), dessen Besetzung dem Bischof und Domkapitel in Verden zusteht.

Anders ausgedrückt, Gottfried Becker sucht sich mit dieser Urkunde sozusagen bei der Besetzung der in Frage kommenden Pfründe ein wenig vorzudrängen. Denn eine päpstliche Urkunde sticht hier wie ein As im Kartenspiel. Präsentiert jemand eine derartige Urkunde, muß er beim Freiwerden der Stelle bevorzugt werden, es sei denn, ein anderer präsentiert eine ähnliche Urkunde. Und das ist gut möglich, denn die Apostolische Kanzlei hat keine Übersicht darüber, ob sonst noch jemand eine ähnliche Urkunde beantragt hat. Allerdings kann man gegen einen Obolus die Urkunde in der Kanzlei registrieren lasse. Das macht sich gut, falls es zu juristischen Querelen kommt. Das hat übrigens Gottfried Becker getan, wie das große R auf der Rückseite der Urkunde verdeutlicht. Es steht für „registratum“. Daneben hat auch der Registrator seinen Namen hinterlassen: Er heißt Franciscus de Agello.

Kurzum: Die Ausgaben für eine derartige Urkunde waren damals kein sicherer Freibrief, sondern ein sehr risikoreicher und vor allem kostspieliger Versuch, sich in der Schlange der Pfründenanwärter vorzudrängen. Denn bevor die Urkunde Wirkung zeigte, mußte zunächst einmal eine Pfründe durch Tod oder Versetzung frei werden. War sie frei, konnte der Anwärter mit seiner Päpstlichen Urkunde nur hoffen, daß kein Kollege mit einer ähnlichen Urkunde wedelte. Denn dann mußte die bischöfliche oder erzbischöfliche Appellationsinstanz klären, wem der Vorzug gegeben werden sollte. In jedem Stadium eines derartigen Verfahrens konnte der Betroffene jedoch auch direkt an Rom appellieren. Gebührenpflichtig selbstverständlich. Im schlimmsten Falle war der Pfründenanwärter jedoch selbst bereits tot, bevor der Pfründenfall eintrat, oder der Papst starb. Dann war die ganze Investition für die Katz.

Interessant mag weiter sein, daß es zwar noch keine gedruckten Urkunden gab. Die Kunst des Buchdruckens wurde erst 1450 erfunden, aber es gab feste Formeln, die für die jeweiligen Urkunden vorgeschrieben waren. So kommt denn das Geheime Staats-Archiv in Berlin am 16. Juli 1928 mit Recht zu dem Schluß: „Besonderer historischer Wert ist der Urkunde nicht zuzuerkennen.“

Dem widerspricht allerdings Prof. Schmidt nach intensivem Studium. Er stimmt zwar zu, daß die Urkunde „nichts Weltbewegendes“ enthalte, meint aber, daß sie trotzdem „für die Verdener Kirchengeschichte und das Personalverzeichnis der Geistlichen ganz hübsche neue Informationen“ enthalte.

Schmidt vermutet, daß Becker „wahrscheinlich in jener Zeit in Konstanz anwesend“ gewesen sei „und an der Schlußphase des Konzils teilgenommen“ habe. Gottfried Becker sei im übrigen, wie der Rostocker Professor inzwischen herausfand, „kein ganz unbedeutender Mann“ gewesen. „Einige Zeit nach Ausstellung der Urkunde“ wurde er nämlich „Archidiakon von Salzhausen (Bistum Verden, westlich von Lüneburg), dann Dorndechant von Verden. Aus seinem nicht unbedeutenden Nachlaß wurden Stiftungen an die Verdener Domkirche gemacht.“ Da Verden ein Suffraganbistum des Erzbistums Bremen war, gelangte die Urkunde wohl ins Erzbischöfliche Archiv.

Der erwähnte Titularbischof von Frigento hieß übrigens Giovanni Carradolo. Er war „Auditor sacri palatii“, also Richter des Päpstlichen Gerichtshofs, der Rota Romana. Schmidt vermutet, daß Becker mit ihm „sicher geschäftlich-dienstlich zu tun“ hatte und ihn „deshalb zu seinem Protektor erwählte“. Denn ohne „Protektion“ lief auch im Mittelalter nichts, was besagte Urkunde als Brief mit Siegel noch heute unter Beweis stellt.