Das Geheimnis der B-Produktionen

Hochglanz, Elend und alltägliche Gewalt in den Reihenhaussiedlungen von Vancouver: Jeff Walls inszenierte Riesendias aus „Landscapes and other pictures“ im Kunstmuseum Wolfsburg. Ein Konzept mit Lücken, besehen  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Jeff Wall hat sich eine eindeutige Präsentation angeeignet, um einem schwierigen Gedanken nachzugehen. Technisch sind seine Bilder Dias von sehr großem Format, die auf Leuchttische montiert und an die Wand gehängt sind. Anders als bei den Neoninstallationen von Dan Flavin sind bei Walls Präsentation die elektrischen Kabel verborgen. Die Leuchtkästen haben rund 25 Zentimeter Tiefe, ragen also in den Raum wie ein Relief. Die Bilder sind ziemlich perfekt illuminiert; aber jedes Dia ist eingefaßt von einem silbergrauen Rand, den man in der Tradition des Bilderrahmens oder des Passepartouts sehen kann.

Wie Video, bloß ohne dessen Papperlapapp

Man findet Jeff Walls siebzehn Arbeiten im großen Wolfsburger Kunstmuseum nicht in der geräumigen fotografischen Galerie, sondern im tageslichtlosen Seitentrakt in der Nachbarschaft einer Videoinstallation von Gary Hill. Jeff Walls Arbeit hat den Vorteil, kein Papperlapapp von sich zu geben, funktioniert aber ansonsten wie Video oder wie ein Computerbildschirm; jedenfalls bringt sie ihr eigenes Licht mit und appelliert so an einen Betrachter, der den Ort, an dem er ist, vergißt, zugunsten des Ortes, den er erblickt. Drei Beispiele seiner Arbeit:

„Steve's Farm, Steveston“ ist ein zwei Meter dreißig breites Panoramabild, das eine Szenerie am Rande einer Reihenhaussiedlung zeigt. Links im Bild die Farm, mit zwei Pferden, zwei Kühen und diversen Autowracks offensichtlich kein prosperierendes Unternehmen. Das Grundstück ist durch ein Bächlein von einem Schotterweg getrennt, der ins visuelle Zentrum des Bildes gelegt wird. Sehr klein im Bild ein Jugendlicher, der aus der Suburbia kommend auf die Kamera, die in etwa den „Stadtrand“ markiert, zugeht. Das Bild stammt aus dem Jahr 1980.

Vierzehn Jahre später: „Insomnia“, eine Küchenszene. Das beißend mattgrüne Interieur, in sehr fahlem Licht, stammt aus den dreißiger Jahren. Neben dem Zwei- Meter-Kühlschrank und unter dem Küchentisch liegt ein schwitzender Mann mit offenen Augen. Abgesehen vom Titel, der klarstellt, daß es sich nicht um die Darstellung eines Todes handeln soll, gibt es wenig Aufschluß über die Bizarrerie der Situation.

„Man in Street“ von 1995: Der Leuchtkasten ist so klein, daß man ihn unter den Arm nehmen könnte. Er zeigt zwei Motive, die nahtlos montiert sind: Links im Bild sieht man einen weißen Mann auf einer Bank in der Innenstadt sitzen. Er ist im Gesicht blutig, und er lacht mit der Unkonzentriertheit eines Geistesgestörten. Im rechten Bild sieht man den selben Mann gehend, nach innen schauend. Das Blut auf seinem Mantel ist in diesem Bild deutlicher zu sehen.

„Steve's Farm“ ist eine Ansicht von alltäglichem Charakter, „Insomnia“ eine aufwendig choreographierte Innenraum-, eventuell sogar Studioszene, und „Man in the Street“ der alleinstehende Versuch einer seriellen Erzählung. Jeff Walls Arbeit ist disparat, und je offensichtlicher die Bilder als „rätselhafte“ entworfen werden, desto stärker graben sie sich ins Gedächtnis. Selbstverständlich aktiviert man als Betrachter einen erheblichen Widerstand, um sich dieser Art von Willkür zu entziehen. Aber der Widerstand schärft die Erinnerungsspur, das Erfolgsgeheimnis aller B-Produktionen.

Die Ausstellung in Wolfsburg heißt „Landscapes and other pictures“ und ähnelt in ihrer weit ausgreifenden Assemblage sehr unterschiedlicher Motive an die (in Luzern und Hamburg) vorausgegangene Wall-Show „Dead Troops Talk“, die nach einer Arbeit benannt war, aber auch mehr oder weniger retrospektiv vorging.

Ratlos geworden, befragen wir den Überbau. Im Katalog unternimmt Camiel van Winkel große Anstrengungen, zu belegen, wie im Werk von Jeff Wall Landschaft und Interieur „sich gegenseitig ein-, nicht ausschließen“. Die Interpretation kulminiert in Walls Bild „Eviction Struggle“ von 1988, das in einer sehr allgemein gehaltenen Aufsicht einer Einzelhaussiedlung als Miniaturszene eine gewaltsame Zwangsräumung eingebaut hat. Das Bild gehört ohne Zweifel zu den stärksten in Walls Oeuvre, weil es die Gelassenheit des Blicks mit einer Narration konterkariert, die einen nicht gelassen lassen kann. Das Manko der Wolfsburger Ausstellung allerdings ist, daß nun ausgerechnet dieses Bild, das „Landscape“ und „other pictures“ beispielhaft verbinden sollte, fehlt.

Sofern es Landschaft ist, berührt sein Werk die Dokumentarfotografie. Viele seiner Bilder zeigen alltägliche Ansichten der Stadt Vancouver im westlichen Kanada, eine recht neue, wohlhabende und dynamisch gewachsene Stadt mit nördlichem Licht und fast alpiner Szenerie („The Pine on the Corner“, 1980), mit einer waldigen Halbinsel am Kopf der Innenstadt, dem Stanley Park („Park Drive“, 1994) und wunderbaren Blicken auf den Sund („The Old Prison“, 1987, „The Bridge“, 1980). Geschult an den Gemälden von Hopper und den Fotos von Eggleston und Shore, hält sich Wall natürlich an den Schmuddel des Alltags; an die Übergänge von Gewerbe und Wohnen, Wildwuchs und Straße.

Fotoszenen vom Typ der Film-Locations

Dieses, das schlichtere Teil seines Werks, hat Jeff Wall aber nicht berühmt gemacht. Bekannt sind seine aufwendig gestellten und sichtbar künstlich ausgeleuchteten Szenen, ob sie nun Interieurs sind oder vom Typ her Film-Locations. Auch wenn Walls Leuchtkastentechnik überlegen ist, erinnern seine extrem artifiziellen erzählerischen Tableaus an Cindy Sherman. Bei Sherman allerdings ist der Sinn ihrer Figur verbürgt: Sie erzählt von piktorialen Klischees des Sexuellen und der schönen Wirklichkeit, die sie bergen.

Daß Jeff Wall ein spiegelbildliches Thema haben könnte, ist (glaube ich) noch nicht bemerkt worden: das Verhältnis von männlicher Sozialisation und der Phantasie des Wilden. „Steve's Farm“ deutet bereits darauf hin, und auch in anderen Bildern hat Wall Jungen und Männer in Situationen choreographiert, in denen die Übereinkünfte der Zivilisation fraglich werden: am Stadtrand, am Straßenrand, am Rand der Vernunft. In der Wolfsburger Ausstellung ist das vertrauteste Tableau zum Thema „A Hunting Scene“ (1994): zwei Männer mit Schrotflinten unterwegs im schrottigen Brachland. In etwas aufdringlicher Manier nimmt ein anderes Bild das Thema auf, das vier Jungen vor einer abblätternden Holzgarage zeigt, just bevor sie den fünften verdreschen. Unter dem Männeraspekt macht das Innenstadtfoto des „Verrückten“ plötzlich Sinn, und das Küchenbild des Schlaflosen zeigt die nächtliche Wildnis im domestischen Kerker. Jeff Wall interessiert sich für Männer und Jungen in Situationen, in denen es ihnen zuletzt in den Sinn kommen würde, sich herzuzeigen oder abzubilden. Insofern sind die Spuren im Brachland die Wege des Es.

Der schwierige Gedanke seines Werks ist, daß es einen kosmischen Zusammenhang gäbe, in dem jedes Scheibchen des Akzidentellen seinen zwingenden Platz hat. Jeff Walls Ehrgeiz erlaubt sich aber letztlich nur Motive, nicht wirklich Themen. Von Dali kennt man das Problem, daß eine „blühende“ Phantasie und die Meisterschaft der Darstellung eine gewisse Glätte erzeugen, die einen für Momente in Bann schlägt und plötzlich kaltläßt.

Jeff Wall: Landscapes and other pictures. Kunstmuseum Wolfsburg, bis 25. 8., Katalog: 33 DM