Anderer Leute Paraden

Der amerikanische Philosoph Michael Walzer fragt in seinem neuen Buch nach der Reichweite und den Grenzen unserer moralischen Kompetenz und erledigt dabei den alten Streit zwischen Universalisten und Relativisten  ■ Von Jörg Lau

Die junge Frau sieht sehr mädchenhaft und verletzlich aus und muß ständig schlucken, um nicht von ihren Gefühlen überwältigt zu werden. Man braucht deshalb einige Zeit, bis man die apokalyptische Gewaltphantasie in ihren Sätzen wirklich zur Kenntnis nehmen kann:

„Die Studenten fragen andauernd, was tun wir als nächstes, was können wir erreichen. Ich fühle mich sehr deprimiert, denn wie kann ich ihnen sagen, daß wir im Grunde auf ein Blutbad hoffen, auf den Moment, in dem die Regierung keine andere Wahl mehr hat, als uns einfach abzuschlachten. Nur wenn das Blut in Strömen fließt, werden dem chinesischen Volk die Augen aufgehen, dann wird es sich zusammenschließen. Wie kann ich das meinen Kommilitonen sagen? Wir lassen nicht zu, daß es der Regierung gelingt, uns zu spalten und vom Platz abziehen zu lassen. Über all das kann ich nicht offen mit den Studenten sprechen. Ich kann ihnen doch nicht sagen, daß wir unser Blut vergießen und unser Leben opfern müssen, um die Bevölkerung wachzurütteln ... Sie sind doch noch so jung.“

Chai Ling, eine Anführerin der chinesischen Studenten auf dem Tienanmen-Platz, gibt diese Worte im Sommer 1989 einem Journalisten aus dem Westen zu Protokoll. Sie muß am Ende weinen, und es gibt keinen Grund, an der Aufrichtigkeit ihrer Tränen und ihrer eigenen Opferbereitschaft zu zweifeln. Chai Ling ist zu diesem Zeitpunkt die Stimme des neuen China. Sie ist es, die die Studenten mit dem Megaphon bei revolutionärer Laune hält, sie ist es, die die chinesische Regierung offen „Verbrecher“ und „Faschisten“ nennt, und die Welt hört ihr zu.

Als ich dieses Interview kürzlich in einem Dokumentarfilm über die Ereignisse vom Platz des Himmlischen Friedens sah, fiel es mir schwer, einen starken Widerwillen gegen die immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelte kindliche Prophetin zu unterdrücken. Wie hatte man doch seinerzeit mit den Studenten gefiebert! Man hatte sofort verstanden, was sie mit ihrer aus Gips eilig hergestellten Liberty-Statue sagen wollten, und fieberte mit diesen etwa gleichaltrigen Leuten am anderen Ende der Welt. Am Ende ist dann bekanntlich Chai Lings verzweifelter Wunsch in Erfüllung gegangen und Blut in Strömen geflossen. Die ersehnte nationalrevolutionäre Erweckung jedoch blieb aus, und die Prophetin mußte vor den Agenten des staatlichen Unterdrückungsapparates ins amerikanische Exil fliehen, wo sie noch heute als chinesische Staatsfeindin Nummer eins lebt. Das Verstörende an diesem Interview war die Allianz von leninistischem Avantgardebewußtsein oder gar traditionellem Mandarintum mit demokratischer Emphase – eine Kombination, die mir ein offenbarer Selbstwiderspruch schien. Aber gerade diese Kombination war es ja wohl gewesen, die Chai Ling vor sieben Jahren in Peking zur Frau der Stunde gemacht hatte.

Chai Lings Beispiel wirft im westlichen Fern(seh)-Beobachter zwei Fragen auf: War es ein bloßer Trick, ein Medieneffekt, der dich glauben ließ, du verstündest, was die Chinesen mit ihren Spruchbändern – „Freiheit“, „Wahrheit“, „Demokratie“ – meinten? Und solltest du dich dann künftig nicht besser heraushalten und dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern, statt immer wieder in die Verstehens-Falle des Universalismus zu tappen? (Wer zur Reform des deutschen Rentensystems keine zwei sinnvollen Sätze abzugeben weiß, soll zur Reform des chinesischen Herrschaftssystems schweigen?)

Prophetentum und Gesellschaftskritik

Wer solche Anwandlungen kennt, sollte die Bücher von Michael Walzer lesen. Zwei der zentralen Themen des amerikanischen Philososphen, der in Princeton lehrt und die Zeitschrift Dissent herausgibt, sind nämlich der Zusammenhang von Prophetentum und Gesellschaftskritik und das Verhältnis von lokaler Kritik zu globalen Standards.

Im Rotbuch Verlag sind bislang, dank des Engagements von Otto Kallscheuer, dem auch die instruktiven Einleitungen und Nachworte zu verdanken sind, vier von Walzers Werken auf deutsch erschienen: In „Exodus und Revolution“ (1988; jetzt als Fischer Taschenbuch) untersucht Walzer die prägende Kraft der Geschichte vom Auszug der Israeliten aus Ägypten für fast alle revolutionären Bewegungen der westlichen Welt. In „Kritik und Gemeinsinn“ (1990; jetzt als Fischer Taschenbuch erhältlich) beschreibt er die alttestamentarischen Propheten als Erfinder unserer Tradition der Gesellschaftskritik. „Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie“ (1992) ist eine Verteidigung der liberalen „Politik der Differenz“ beziehungsweise der „Kunst der Trennung“ vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politisch-sozialen Probleme in den Vereinigten Staaten.

Sein neuestes Werk, „Lokale Kritik – globale Standards“ (Rotbuch Verlag 1996. Aus dem Amerikanischen von Christina Goldmann. 160 Seiten, 34 DM), nimmt die politisch-moralischen Verwerfungen der internationalen Beziehungen in den Blick, die von der Moralphilosophie traditionellen Zuschnitts gerne unter dem Titel „Partikularismus (Relativismus) oder Universalismus“ debattiert werden. Das Buch kommt in bescheidener Aufmachung und verständlichem Ton daher, und daher steht zu befürchten, daß es hierzulande unterschätzt wird. Dabei könnte es den Anfang vom Ende eines der lästigsten Scheinprobleme der politischen Philosophie bedeuten.

Walzer beginnt mit der Verwunderung darüber, daß wir „in anderer Leute Paraden mitmarschieren können“. Sein Beispiel ist eine andere Demonstration vom Sommer 1989. Michael Walzer hat sie, wie die meisten von uns, am Fernseher verfolgt: In Prag zogen die Leute mit Transparenten durch die Straßen, auf denen lediglich „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“ zu lesen stand. „Wie war es möglich“, fragt sich Walzer, „daß ich so schnell in das Sprachspiel oder das Machtspiel einer so weit entfernten Demonstration einsteigen und mich mit ihm so rückhaltlos identifizieren konnte? Die Demonstranten gehörten einer mir weitgehend unvertrauten Kultur an, sie reagierten auf eine Erfahrung, die ich nie gemacht habe.“

Um solche unwahrscheinlichen Resonanzen zu erklären, nimmt die philosophische Ethik gewöhnlich an, ein „dünnes“ Bündel universal geltender moralischer Prinzipien werde jeweils auf eine „dichte“ Weise diesen oder jenen historischen Umständen angepaßt. Walzer hält die Vorstellung einer dichten lokalen Ausarbeitung überall geltender dünner Prinzipien jedoch für irreführend, mag sie auch unseren Intentionen über Entwicklungs- und Reifeprozesse entsprechen. Wir kommen weiter, wenn wir uns die Sache umgekehrt vorstellen: „Jede Moral ist von Anfang an ,dicht‘, das heißt kulturell integriert und Teil eines komplizierten Gewebes; nur zu besonderen Anlässen erweist sie sich als ,dünn‘, nämlich dann, wenn die Sprache der Moral ganz bestimmten Zwecken dienen soll.“

Diskursethik als Etikettenschwindel

Dieser pragmatistische Perspektivwechsel ist natürlich eine Provokation für die derzeit herrschende „minimalistische“ Lehre – die Diskursethik von Jürgen Habermas. Sie gibt ein „dünnes“, universell anwendbares Verfahren vor, das jede weitergehende partikulare Erzeugung einer dichten, gehaltvollen, maximalistischen Moral anleiten soll. Die minimale Moral der für alle verbindlichen Teilnahmeregeln erzeugt maximalistische Moralen in prinzipiell unabschließbaren Debatten.

Walzer hält das so definierte Verfahrensminimum allerdings für einen Etikettenschwindel, denn „sobald solche Regeln erst einmal aufgestellt sind, bleiben nur noch sehr wenige inhaltliche Fragen übrig, über die die Sprecher streiten und entscheiden können“. Eine dünne Verfahrensmoral, wie sie die Diskursethik vorschlägt, würde uns überhaupt nicht einleuchten, gäbe es nicht schon die liberale Kultur, deren Abbreviatur sie ist.

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Die Philosophen, so verstehe ich Michael Walzer, sollen endlich aufhören, ihre Abbreviaturen als Letztbegründungen auszugeben. Eine liberale Kultur braucht ohnehin keine solchen Fundamente, sondern verbesserte Selbstbeschreibungen.

Die minimale Moral, wie sie die Tschechen auf ihren Plakaten in Prag oder die chinesischen Studenten in Peking forderten – Wahrheit!“ „Gerechtigkeit!“ „Freiheit!“ –, sollen wir uns nicht als lokalspezifische Ausprägung oder Anwendung allgemeingültiger Normen vorstellen, sondern als eine unter Druck eilig angefertigte Abstraktion eines dichten, maximalen Moralgefüges. In Krisenzeiten schaffen die politisch-moralischen Akteure „eilends eine abstrakte Version, ein Strichmännchen, eine Karikatur, die die Komplexität des Originals nur andeutet. Wir greifen einen einzelnen Aspekt heraus, der für unsere unmittelbaren (oftmals polemischen) Zwecke ausschlaggebend und allgemein wiedererkennbar ist.“

Die Erfindung der Menschenrechte

Anders gesagt: Der minimalistische Universalismus der hehren Formeln ist in gewissen Situationen einfach praktisch. Ob er dann wirklich funktioniert, hängt allerdings wiederum von entgegenkommenden Kontexten ab: „Hätten wir nicht unsere eigenen Protestkundgebungen, so würden wir nicht stellvertretend oder im Geiste in Prag mitdemonstrieren können. Ja, wir würden nicht einmal verstehen, was ,Wahrheit‘ und ,Gerechtigkeit‘ bedeuten.“

Um im Namen des Menschenrechts für eine militärische Intervention zu plädieren, die das Abschlachten in Bosnien beendet, müssen wir keineswegs zugleich behaupten, die Menschenrechte seien nicht bloß soziale Konstruktionen, die aus einem historischen Kontext von Christentum und französischen Revolutionsidealen entstanden seien, sondern hätten selbstverständlich auch schon gegolten, als sie noch von niemandem anerkannt wurden. Wir können uns solche sophistischen und politisch obszönen Gefechte einfach schenken.

Walzer muß sich von der nietzscheanischen Moralkritik – es handele sich bei den Menschenrechten um Erfindungen, die von den Schwachen verbreitet wurden, um sich gegen die Starken zu schützen – nicht zu der metaphysischen Erwiderung herausgefordert fühlen, es gebe tatsächlich rationale Grundlagen für die universale Geltung solcher Rechte. Er kann mit Nietzsches Genealogie der Moral leben und sich, da der tapfere, glückliche (und wohl auch ein wenig tumbe) Barbar ohnehin nicht sein Ideal ist, auf den Standpunkt stellen, „daß an solchen Erfindungen doch gar nichts auszusetzen sei“ (Richard Rorty).

Universalisten aus Verlegenheit

Walzer möchte zwar jenen Moralphilosophen den Wind aus den Segeln nehmen, die sich damit abplagen, die moralische Praxis endlich auf sichere Fundamente zu stellen, aber seine Absichten sind dabei alles andere als antimoralistisch. Er zeigt nur, was uns zu Universalisten aus Verlegenheit werden läßt, und das heißt, gut pragmatistisch, welchen sozialen Sinn die Verwendung moralischer Minimalformeln hat.

Walzers Darstellung der losen Kopplung von dünner und dichter Moral, von Minimalismus und Maximalismus hat erstens den Vorteil, daß sie meine seltsamen Allianzen mit tibetischen Mönchen, chinesischen Studenten, katholischen polnischen Werftarbeitern und linksradikalen mexikanischen Rebellen im Namen von Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit erklären kann, ohne wegschminken zu müssen, daß uns weiterhin autokratische Ideale politischer Herrschaft, ein traditionelles intellektuelles Mandarintum, ein Begriff von Abtreibung als Sünde oder die Geringschätzung des Privateigentums trennen.

Unsere Allianz bedeutet weder für mich, daß ich mit den jeweiligen Minimalbegriffen auch das ganze maximalistische Kleingedruckte gutheißen muß, noch legen sich die Prager Demonstranten etwa durch die Verwendung von Parolen wie „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“ auch schon auf ein bestimmtes künftiges tschechisches Bildungs- oder Sozialsystem fest. Sie werden solche Fragen untereinander nach Maßstäben ihrer Geschichte und Kultur aushandeln, wenn sie ihre „minimalistischen“ Probleme gelöst haben und also vorerst aufhören können, Gelegenheits-Universalisten zu sein.

Allerdings, so werden überzeugte Ganztags-Universalisten einwenden, haben ja die chinesischen Studenten nicht auf ein einheimisches, sondern auf ein Symbol der westlichen Kultur zurückgegriffen – die Freiheitsstatue –, um ihren Zielen Ausdruck zu verleihen. Aber heißt das auch, daß die Studenten im Falle ihres Sieges das amerikanische Gesundheitssystem in China hätten einführen wollen?

Man wüßte gerne, was Chai Ling inzwischen dazu zu sagen hätte. Sie hat in den vergangenen Jahren an amerikanischen Elite- Universitäten studiert und lebt heute in Boston als erfolgreiche Unternehmerin.