Weitere Graue holen Milchkaffee

■ Erlebnissplitter: Die holländische Performance-Gruppe Lupus Ludens gastiert großflächig im Tacheles

Nachmittags auf der Oranienburger Straße: massenweise junge und junggebliebene Touristen suchen nach den verruchten Ecken der Großstadt, dazu Buntschopf- und Bierdosenleute, die verrucht den trüben Tag verlümmeln. Inmitten dieses Kiezidylls fünf Frauen, gerüstet zur Konsumschlacht. Ihre Einkaufswagen lassen sie vor sich herscheppern, stoppen mal hier, mal dort. So was richtig Schönes zum Shoppen sucht man in der Nähe des Tacheles zwar vergebens, aber die fünf Einkäuferinnen sind sowieso nicht echt. Plastikfolie umhüllt ihre Wagen, sie selbst tragen einheitsgrau angestrichene Mänteln und Galoschen. Unter ihren Kopftüchern lugen blonde Gummihaartürme hervor.

Aber weniger das theatralische Outfit unterscheidet das Grüppchen von der Umgebung, als vielmehr die tänzerisch zeitlupenhafte Art der Bewegung, mit der sie ihre Alltagshandlungen ausführen. Irgendwann verschwinden sie im Tacheles. Und wenn sie im Skulpturengarten wiederauftauchen, wird vollends klar, daß es sich um eine Performance handelt. Ein ebenso einheitsgrauer Mann nimmt dort Maß an einer Fünfer-Phalanx von Schaufensterpuppen, deren Posen die Plastik-Housewives später imitieren. Zwei weitere Graue holen Milchkaffee. Die Wirklichkeit als traumhaft überhöhte Fata Morgana, inmitten der echten Milchkaffeetrinker. Kein Wort sprechen die Akteure bei dieser verzahnten Aktionskette, die irgendwann ganz langsam ausklingt.

„Das Irren in den Trümmern“, nennt die Gruppe Lupus Ludens diesen Anfang ihrer Performance- Reihe. Bis Sonntag geben das Tacheles und die davor und dahinter gelegenen öffentlichen Räume die Kulisse für ein Ortsentdeckungsprojekt ab, das vom Nachmittag bis in die späte Nacht geht.

Das Künstlerkollektiv ist eigentlich im holländischen Hilversum zu Hause. Dort betreibt es seit sieben Jahren ein (besetztes) Kunsthaus, das ähnlich wie das Tacheles funktioniert. Allerdings fast ohne Subventionen. Künstler verschiedener Disziplinen arbeiten nebeneinander in den Ateliers und treffen sich immer wieder zu gemeinsamen Projekten. Die finden sowohl auf den Straßen der umliegenden Städte als auch im hauseigenen Theater statt – und nicht nur mit Profis. Von der Tänzerin über den Maler bis zum Lastwagenfahrer sind alle Berufsgruppen vertreten. „Denn jedeR hat seine Obsession, die für eine Auseinandersetzung interessant sein kann“, beschreibt Performerin und Sängerin Christiane Kiel den Ansatz.

Das Berlin-Projekt ist ihre erste multimediale Auslandsreise. Theaterbilder, Environments, Kostüme und Aktionen haben sie im Rucksack, die sie vor Ort erweitern und jeden Abend neu zusammensetzen.

Wenn die Performance drei Stunden später im Hof weitergeht, haben die Puppen ihren Platz hinter einem seilumschlungenen Absperrgitter gefunden. Das Alltagskondensat ist zum surrealen Schattenspiel geworden. Zum Verweilen, Schauen und Wieder-Weiterquatschen. Nicht als alle Sinne fordernder Hauptact, sondern als fremde leise Bildfolge, die sich anbietet, aber nicht aufdrängt.

Die Annäherung an die verquere Meile rund um das Tacheles findet nicht nur theatralisch statt. Im Café Zapata hängen Bilder, öffentliche Malaktionen sind geplant. Und am späten Abend spielt eine Band auf. Als „New Avantgarde“ gibt sie ihre Musikrichtung an. Dahinter verbirgt sich ein rock- punkiges Allerlei, garniert mit (eher störenden) Mini-Aktionen. Nach einer Kostümperformance draußen legt dann noch ein gruppeneigener DJ zum Tanz auf.

Mit fast 30 Künstlern aller Sparten rückt das Kollektiv in Berlin an. Deshalb Aktions-Addition satt, manchmal ohne rechten Zusammenhang. Aber eine Großstadt besteht schließlich aus Erlebnissplittern. Darin kann jeder eintauchen, der will. Und wer nicht will, trinkt eben sein Bier. Die spielenden Wölfe beißen nicht. Gerd Hartmann

„Spiele über eine Großstadt“ Sa., So. ab 16 Uhr, Tacheles, Eintritt frei. „Artsnacks“, 1.–4.8., ab 21.30 Uhr in der Aktionsgalerie, Große Präsidentenstraße 10