„Prawda“ schlägt Stunde der Wahrheit

■ Rußlands Kampfblatt der Arbeiterklasse stellt erneut sein Erscheinen ein

Moskau (taz) – Die Prawda, Flaggschiff der internationalen Arbeiterklasse, hat erneut ihr Erscheinen eingestellt. Oberflächlich betrachtet sind daran drei vorübergehend verschwundene Leninorden schuld. Bei genauerem Hinsehen sind die Hauptschuldigen selbstverständlich dort zu suchen, wo man sie erwartet: im kapitalistischen Lager. Seit 1992 gehört das Kampfblatt einer griechischen Reederfamilie. Die riß sich den Verlag wohl unter den Nagel, um die Arbeiterbewegung ihrer schlagkräftigsten Waffe zu berauben: der Wahrheit. Zur Verteidigung der Superreichen ist indes anzuführen, daß sie für die Träume ihrer Sklaven durchaus Sympathien hegten.

Chefredakteur Alexander Iljin machte sich während einer Dienstreise der Financiers, der Brüder Christos und Theodoros Iannikos, auf die Suche nach den Auszeichnungen. Er konnte aber den Safe nicht öffnen. Beim Betrachten der Orden habe er nur neue schöpferische Kraft sammeln wollen. Bei Sotheby's in New York erreichten derlei Sammlerstücke einen Auktionspreis bis zu 1.200 Dollar.

Als die Polizei nach einer Woche den Safe endlich geknackt hatte: gähnende Leere, die Brüder hatten die Orden in ihrem Büro untergebracht. Zunächst verwehrte die Polizei ihnen den Zutritt zum Gebäude. Nach Klärung der Angelegenheit rächten sich die Griechen und machten den Laden ganz dicht: „Unsere Journalisten feiern gerne. Sie glauben, sie müßten nicht arbeiten und erhielten trotzdem Lohn. Hier wird kräftig gesoffen, gewöhnlich fangen sie schon frühmorgens an.“ Wen wundert's? Bleiwüste macht durstig, nun ist auch die letzte Quelle versiegt.

Iljin leugnet nicht, daß sich seine Mitarbeiter besonders gut in der Welt des Alkohols zurechtfinden. Doch was könne man von Redakteuren erwarten, deren Löhne gerade für eine Flasche Wodka reicht? Seit einem Jahr geben die Griechen freitags die prawda 5 heraus, mit einem jungen, dynamischen Team. Die Auflage erreicht heute 300.000, während der alten Namensspenderin die Leser wegsterben. Das jüngere Blatt gibt sich moderater. Iljin indes paßt eine versöhnlichere, sozialdemokratische Linie nicht ins Konzept. „In wodko veritas“: Die Wahrheit liegt eben im Wodka. Klaus-Helge Donath