Volk des Buches?

■ Das Wiener Denkmal für die ermordeten Juden Österreichs soll jetzt eilends gegen heftige Bedenken ausgeführt werden

Ein Kunstwerk ist ein Kunstwerk. Und ein Mahnmal ist ein Mahnmal. Manchmal aber wollen Kunstwerke auch Mahnmale sein, dann beginnt meistens sofort der Streit. Oder halt ein paar Monate später. So geschah es in der vergangenen Woche in Wien.

Denn die Stadt hat bisher kein Denkmal für die ermordeten Juden. Zwar gibt es Alfred Hrdlickas Denkmal „Gegen Krieg und Faschismus“ – doch dieses war nie wirklich wohlgelitten und durch diverse Entgleisungen seines Schöpfers ins Gerede gekommen. So rannte Simon Wiesenthal vor zwei Jahren offene Türen ein, als er forderte, es müsse auch in Wien an zentralem Ort ein Mahnmal für die jüdischen Opfer geben.

Darauf bestimmte der Bürgermeister den Judenplatz in der Innenstadt zum Aufstellungsort und berief eine Jury. Diese lud neun Künstler zu einem Wettbewerb, prüfte das Konzept der britischen Künstlerin Rachel Whiteread und sah, daß es gut war.

Man legte den prämierten Entwurf dem Wiener Gemeinderat zur Beschlußfassung vor, auch die Öffentlichkeit – in Gestalt der Wiener Presseerzeugnisse – machte sich kundig, und sie alle sahen, daß es gut war.

Scheinbar klug geworden aus dem bitteren Streit um das Hrdlicka-Denkmal, gewarnt durch den endlosen Zwist um das Berliner Holocaust-Mahnmal, schienen sich die Politik, die Führung der Israelitischen Kultusgemeinde und die Öffentlichkeit still darüber verständigt zu haben, diesen Plan ohne heftige Debatten über die Bühne bringen zu wollen. Selbst die Tatsache, daß dort, wo das Fundament des Mahnmals entstehen soll, die Reste der mittelalterlichen Synagoge, die 1421 bei einem Pogrom zerstört worden war, freigelegt wurden und Whiteheads Entwurf die Ausgrabungen nicht integrierte, focht die Entscheidung nicht an.

Bis zur Vorwoche. Da verstörte die Wortmeldung des Oberrabbiners Paul Chaim Eisenberg, der vorschlug, das Denkmal an anderem Ort zu errichten, und jene des Leiters des Jewish Welcome Service, Leon Zelman, der von einem „Fremdkörper“ am Judenplatz sprach, die Wiener Öffentlichkeit. Tatsächlich ist der Whiteread-Entwurf nicht gerade gelungen. Das prämierte Projekt, das bereits am 10.Oktober enthüllt werden soll, sieht einen monströsen Stahlbetonkubus von 10 mal 7 mal 3,8 Meter vor, der eine nach außen gekehrte Bibliothek darstellt. Die vielgepriesenen „symbolischen Assoziationen“ (so Sigrid Löffler in der Süddeutschen Zeitung) sind entweder banal, wenn nicht gar dumm: Wieder wird die alte Leerformel vom „Volk des Buches“ bemüht, als hätte sich derweil nicht herumgesprochen, daß „die Streitfrage, die Judentum und Christentum voneinander trennt“ (Jacob Taubes) nicht das Schrifttum, sondern das Gesetz ist. Der Jude Saulus aus Tarsus, der sich Apostel Paulus nannte, markierte die Bruchstelle: „Christus ist des Gesetzes Ende“ (Römerbrief 10,4).

Dichter, Denker, Schuster, Krämer

Doch ließe sich mit dieser plumpen philosemitischen Symbolik noch leben, insinuierte sie nicht in subtiler Grausamkeit, der Genozid wäre weniger verwerflich, hätte man nicht Dichter und Denker, Nobelpreisträger und Schriftgelehrte, sondern „bloß“ Schuster, Krämer und Analphabeten ermordet.

Händeringend wird nun versucht, die aufbrausende Debatte unter der Decke zu halten. Bürgermeister Michael Häupl: „Das Denkmal am Judenplatz wird stattfinden. Es ist vollkommen unverständlich, daß es nach eineinhalb Jahren Diskussion wieder in Frage gestellt wird.“ Und Paul Grosz, der Präsident der Wiener Kultusgemeinde, meinte gar: „Was immer es gegen das Projekt einzuwenden gäbe: Dies eineinhalb Jahre nach Initiierung zu tun, kann dem Ansehen Österreichs nur Schaden zufügen.“

Dabei scheint wahrscheinlicher, daß das Verbot einer Debatte den Absichten der Denkmalbefürworter viel größeren Schaden zufügt. Wobei bezeichnend ist, daß über diese Absichten kaum Klarheit herrscht. Selbst die Schlüsselfrage „Wer gedenkt wessen?“ ist so eindeutig nicht zu beantworten. Klar ist nur die Aufschrift: „Zum Gedenken an die über 65.000 österreichischen Juden, die in der Zeit von 1938 bis 1945 von den Nationalsozialisten ermordet wurden.“

Der Personenkreis, dessen gedacht werden soll, ist also klar benannt: nicht der ermordeten europäischen Juden – wie das etwa das umstrittene Berliner Denkmal vorsieht –, sondern der österreichischen Juden. Dagegen bleiben die Täter seltsam unbestimmt. Nicht von der Barbarei der Wiener ist die Rede, nicht von den österreichischen Mördern, sondern von „den Nationalsozialisten“, die so fern klingen, als wären sie Marsmenschen – oder Deutsche.

Was ist dieses Denkmal also? Ein Ort jüdischer Erinnerung? Oder ein Mahnmal, das Wien nun den Opfern widmet – ohne sich selbst aus der Deckung zu wagen? Dann würde hier der eigenen Schande zu gedenken sein – eine Erinnerung, die immer auch die eigene Läuterung inszeniert.

In der jüdischen Tradition ist die Forderung nach Erinnerung fundamental, steht das Postulat „Gedenke! Erinnere dich!“ im Zentrum, ist doch die bloße Existenz des jüdischen Volkes von Erinnerung abhängig. Eine Forderung, die jene Nationen, die am Genozid an den europäischen Juden mitwirkten, nun nach und nach – wenn auch in entstellter Form – übernehmen. Dies mag so sein – doch das mindeste, was man erwarten kann, ist, daß man klärt, woran ein Denkmal erinnern soll. Robert Misik