Spiel und Strafe

Die Schönen, die Bombe, der Kommerz: Von den Schwierigkeiten der Kritiker mit dem eigenen Vergnügen am olympischen Jahrmarkt  ■ Von Mariam Niroumand

Nach einem Bericht der amerikanischen Zeitschrift Newsday war das französische Schwimmteam während seiner Olympiavorbereitung auf eine extravagante Idee verfallen. In schwarzen Badeanzügen würden die Damen im Stechschritt German style in Atlanta an den Pool schreiten, um anschließend, im Wasser, die Ankunft jüdischer Frauen in den Todeslagern, die Selektion durch deutsche Ärzte und den Gang zu den Gaskammern nachzustellen. Dazu würden Musik aus „Schindlers Liste“ und jiddische Weisen aus dem Ghetto erklingen. Sportminister Guy Drut allerdings fürchtete, man werde das Publikum in Atlanta brüskieren und ließ die Mannschaft eine neue Kür konzipieren.

Atlanta hatte auch ohne diese J'accuzi-Nummer noch genug von einer Freakshow, einem frohen Jahrmarkt der Bizzarerien, von dem es täglich schwerer fiel, sich loszureißen. Damit meine ich nicht den Computer, der eigentlich für den Sponsor IBM werben sollte, indem er die Presse mit Sportlerdaten versorgte und der dann aber beispielsweise die Körpergröße eines Boxers aus Uganda mit sieben Metern angab. Ich meine auch nicht den kanadischen Fechter, dessen Busfahrer sich auf dem Weg zum Wettkampf verfuhr, oder den georgischen Judoka, der vor dem Wettkampf zum Wiegen an die falsche Stelle gebracht worden war.

Der amerikanische Fernsehsender NBC mit seinen 140 vor den Spielen gedrehten Dokudramen über einzelne Sportler – über den asthmatischen Schwimmer Tom Dolan, seine Mannschaftskollegin Amanda Beard und deren Teddybär oder Gary Hall und seinen inhaftierten Großvater – hatte schon den richtigen Riecher: Das Faszinierende an Olympia sind die Wunderlichkeiten, die bei Athleten nicht nur so eben hingenommen oder zu einer niedlichen Soap Opera frisiert werden, sondern die geradezu eine notwendige Voraussetzung ihres Erfolges sind. Ein Typ wie Manfred Nerlinger, 164 Kilo schwer, der von sich sagt: „Ich trinke ein Erdinger Weißbier, esse ein Müller-Brot und fahre zur Kur nach Bad Götting“, der käme im wirklichen Leben bestenfalls zu den Weight Watchers, und niemals, niemals würdest du ihm deine Telefonnummer geben. In Atlanta ist er ein Pfundskerl, den man streicheln, klopfen und trösten möchte und dem man es irgendwie nicht übelnimmt, wenn er einen überlegenen Russen erst nach und nicht vor dem Wettkampf des Dopings bezichtigt. Oder die kleinen, hart an der Magersucht vorbeiturnenden Mädchen mit den seltsam erwachsenen Gesichtern, die, wie Kerri Strug, trotz ihrer Fußverletzung noch weiterspringen und sogar gewinnen (sie soll schon jetzt erkleckliche Verträge mit einem Schmerzmittelhersteller abgeschlossen haben). Und erst die Sprinterin Gail Devers mit ihren Hexennägeln! Oder was soll man von einer Frau wie Uta Pippig halten, die ihr Leben auf den Höhenwegen rings um Colorado verbringt, jede Woche 250 Kilometer laufend, und die in Boston zu tosendem Applaus weiterwankt, als sie während des Marathonlaufs nicht nur Durchfall, sondern auch ihre Tage zu gewärtigen hat. Was man von ihr halten soll? Man liebt sie! Ob sie gewinnt oder nicht!

Nichtsdestotrotz waren die Spiele von Atlanta bei einem Großteil der Presse schon verschrien, bevor sie überhaupt angefangen hatten. Der Vorwurf der Kommerzialisierung, der die Spiele und die IOC-Berichterstattung schon seit Jahren begleitet, fand in der satten Präsenz der Sponsoren dieses Jahres neue Nahrung. Hinzu kam die Kritik an Georgia als einem rassistischen, von sozialer Ungleichheit nur so strotzenden Unrechtsstaat, dem es nur noch zum Nachteil gereichte, daß anhängige Todesstrafen während der Spiele ausgesetzt wurden (man stelle sich vor, es wären welche vollstreckt worden). Natürlich durfte auch der Vorwurf des Sexismus nicht fehlen: Hatten nicht mindestens zehn Mannschaften überhaupt keine Frauen geschickt? Dabei wäre es doch hübsch gewesen, jemanden im Tschador einen 100-Meter-Hürdenlauf rennen zu sehen! Und wer vom Sexismus redete, durfte selbstverständlich vom Nationalismus nicht schweigen – und so weiter. Die taz hat zusätzlich noch das Problem, die Verbindung von Konkurrenzprinzip, Hochleistungsdruck und an Gewinner verteilten Gratifikationen nicht von Herzen gutheißen zu können. In einer Redaktionskonferenz kam dann folgerichtig die Vorstellung zur Sprache, die nationalen Olympiamannschaften sollten durch ein demokratisch legitimiertes Delegationsverfahren besetzt werden.

Die Schwierigkeit bestand nun allenthalben – und nicht nur für die taz – darin, den Klageton aufrechtzuerhalten und trotzdem zu berichten. Dies allerdings entpuppt sich gerade für eine Zeitung wie die taz, die den Pfennig wenden muß, mit dem sie jemanden nach Übersee schickt, als kompliziert genug. Das um so mehr, als jedermann außerhalb der Konferenzen in froher Übernächtigung auf den Fluren Ergebnisse, Prognosen und fernsehgewiefte Urteile austauschte.

Ein Fluch, Protestzeitung zu sein, und für so viele Kollegen in der Normalo-Presse den Traum der ewigen Dissidenz realisieren zu müssen: Man darf sich keinen Fatz Affirmation leisten.

Doch nicht nur die taz, auch andere Medien behalfen sich mit täglich neuen Enthüllungen: Doping, Fehlorganisation, Dollarströme und daß das amerikanische Publikum nur bei den eigenen Leuten klatschte. Das Bombenattentat vom Samstag, so scheußlich das klingt, schaffte da offenbar eine gewisse Entlastung. Oder wie sonst sind solche fast hämischen Kommentierungen wie die in der Süddeutschen vom 29.Juli zu erklären, in der es hieß: „In Atlanta brechen auch ohne Bombenterror die letzten Dämme weg... Wenn sich das Etikett des Friedensfestes allmählich als monströses Trugbild entpuppt, dann nicht nur, weil die Welt so böse ist. Sondern auch, weil sich die Verantwortlichen seit Jahren nicht scheren um andere Fundamente als solche, die man kaufen kann.“ Natürlich ist sofort auch wieder der Antiamerikanismus zur Stelle. Die junge Welt (30.Juli) weiß: „Die amerikanische Gesellschaft enthält seit Gründertagen ein großes Gewaltpotential. Selbst Werte wie Menschenrechte erhalten in Übersee eine aggressive Deutung... Der Jubel über die Selbstinszenierung der kapitalistischen Moderne wurde zum Klagelied... Spätestens seit Oklahoma weiß die zivilisierte Welt Bescheid, daß der Terror auch aus der Mitte saturierter Gesellschaften kommen kann. Dort, wo sich der Dünkel der Herrenrasse mit der Angst vor sozialem Abstieg verbindet...“ Und immer so weiter. Die taz wiederum deutete in ihrem Leitartikel am 29.Juli das Bombenattentat als Ausdruck eines „amorphen“ statt „politischen“ Terrors (was ist die „politische Logik“ eines RAF-Anschlags?) und sah in den Bildern vom Centennial Park noch ein ganz anderes Ende heraufziehen: „Jene Frau, die mit blutverschmierten Beinen auf dem Rasen des Centennial Parks lag, dementierte genau die heroischen Körperinszenierungen, die der Kern unseres Interesses an Olympia sind. So schob sich das Bild des schwachen, verletzlichen Körpers wie eine Folie hinter die Inszenierung der Hochleistungsleiber.“ Es waren allerdings kaum „Hochleistungleiber“ im Centennial Park gewesen. In der Ausgabe zuvor hatte ein Kommentator zum Absturz der TWA-Maschine noch erklärt, dieser sei eine Lektion für all die „Yuppies und Vielflieger“ (da ist es dann ja fast egal, ob Anschlag oder technisches Versagen), die nun auch bei Lachshäppchen und Schampus einmal an den Tod denken müßten.

Eine religiös anmutende Bestrafungsrhetorik tritt hier zutage, die jedes amerikanischen Fernsehpredigers würdig wäre, hätte sie nicht die besagten antiamerikanischen Untertöne. Wollte man politisch statt religiös-pseudoanthropologisch auf die Bombe von Atlanta reagieren, so hätte man, wie Tage später im Kommentar unserer US-Korrespondentin geschehen, Bill Clinton, der in seiner ersten Antwort auf das Attentat nach der Todesstrafe rief, für seinen unappetitlichen Populismus kritisieren müssen.

Während ich dies schreibe, spielen übrigens ein Tscheche und ein Deutscher gegeneinander Tischtennis. Der deutsche Kommentator nennt den Tschechen Petr Korbel und den Deutschen Jörg Roßkopf. Das Publikum ist zwar spärlich, aber hochkonzentriert, und von Coke ist nichts zu sehen.