Freispruch für Gehorsam

■ Das Priebke-Urteil muß revidiert werden

Das Unfaßbare ist geschehen: Erich Priebke, der deutsche Mitmörder an 335 Italienern in den Ardeatinischen Höhlen im Frühjahr 1944, ist in Rom freigesprochen worden. Hauptbegründung: „Befehlsnotstand“. Mit diesem Spruch übernehmen die italienischen Richter jenes Loch im Netzwerk des Strafrechts, durch das schon unsere Justiz seit 1958 bei den Prozessen gegen NS-Täter die Mehrzahl der vor die Schranken deutscher Schwurgerichte gestellten Mörder hat schlüpfen lassen.

Befehlsnotstand? Es ist kein einziger Fall belegt, daß in den Todeskommandos einem Befehlsverweigerer (solche gab es, wenngleich wenige) auch nur ein Haar gekrümmt worden ist. Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn es eine massenhafte Befehlsverweigerung innerhalb des nazistischen Morduniversums gegeben hätte. Die aber gab es nicht, und die niederschmetterndste von allen Wahrheiten ist eben, daß es für die Majorität der damaligen Deutschen dank Tradition und Pervertierung des „Pflichtbegriffs“ undenkbar war, einem Befehl nicht zu gehorchen. Und zwar auch, wenn er bedeutete, wehrlose Männer, Frauen und Kinder zu töten. Dies ist nicht nur in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom, sondern auch im Marzabotto und an Dutzenden anderen Orten im deutsch besetzten Italien in den Jahren 1943 bis 1945 geschehen.

Aber Erich Priebke war nur ein Vertreter dieses Kadavergehorsams. Die Zeitgenossen, die damals nicht in seine Lage kamen, konnten sich wahrlich beglückwünschen. Nach aller Erfahrung nämlich hätten sie sich genauso verhalten wie Priebke oder die Männer des Polizeibataillons 101. Das waren eben nicht nach Juden- oder Partisanenblut hechelnde Bestien, sondern „ordinary Germans“ (Daniel Goldhagen), stinknormale Bürger und Kleinbürger des Dritten Reiches, die schossen, als ihnen zu schießen befohlen wurde.

„Verjährung“? „Befehlsnotstand“? Die Signalwirkung des römischen Justizskandals auf potentielle Mörder könnte nicht ermutigender sein. Sie sichert ihnen quasi „rechtsstaatlich“ die Aussicht auf Straffreiheit zu, wenn der Tötung nur ein Befehl vorausgegangen ist. Jetzt ist unsere, jetzt ist die deutsche Justiz gefordert. Der Freispruch von Rom ist nicht hinnehmbar und darf nicht das letzte Wort gewesen sein. Ralph Giordano