Zu Besuch im virtuellen Disneyland

In Japan hat das modernste Computer-Spielzentrum der Welt eröffnet: Tokyo Joypolis. Zwischen Bildschirmen und schmatzenden Mülltonnen verlieren sich Kinder in einer imaginären Welt voll Gewalt  ■ Aus Tokio Georg Blume

Draußen scheint die Sonne, doch zum Spielen ist's zu heiß. Sommerferien in der 30-Millionen- Stadt Tokio sind für Kinder eigentlich eine Qual. Wenig Grün, wenig Strand und zu Hause wenig Platz. Aber Kathy, Tochter japanischer Emigranten, hat es nicht anders gewollt. Die neunjährige US-Amerikanerin aus Los Angeles verbringt bei ihrem gleichaltrigen Vetter Takehiro in Tokio auf eigenen Wunsch die Sommerferien. „Takehiro zeigt mir Sachen, von denen ich in Amerika nur träume“, berichtet Kathy. Damit meint das Mädchen Japans Vorsprung bei Video- und Computerspielen, dem begehrtesten Spielzeug der industrialisierten Welt.

An einem heißen Julitag haben die zwei Kinder Takehiros Mutter überredet, mit ihnen das nagelneue Video- und Computerspielzentrum „Tokyo Joypolis“ zu besuchen. Nach Joypolis zieht es derzeit alle Kinder der Nintendo-Generation. Schon schmachten Kids in Europa und den USA, weil der letzte Hip der globalen Unterhaltungsindustrie für sie noch unerreichbar ist. „Joypolis ist viel besser als Disneyland“, sagt Kathy und weiß wirklich, wovon sie redet. Das original Disneyland in Los Angeles hat die kleine Amerikanerin schon zehnmal besucht; nur Joypolis findet sie besser.

Kathy ahnt kaum, daß ihre Worte einen der kühnsten Träume japanischer Konzernpolitik seit der Gründung von Toyota und Sony in greifbare Nähe rücken. „Unser Ziel ist Disney!“ Diese Losung hatte Sega, neben Nintendo und Sony einer der drei Marktführer im weltweiten Videospiel-Geschäft, bereits 1994 ausgegeben. Damals eröffnete Sega in einem abgelegenen Hafenviertel von Yokohama den ersten „High-Tech- Vergnügungspark der Welt“. Nun ist die Vision vom digitalen Disneyland der Realität noch ein Stück näher gerückt: Anfang Juli feierte Sega vor prächtiger Kulisse, an den Kais der neuaufgeworfenen Tokioter Bucht, die Einweihung von Tokyo Joypolis. Der Videotempel ist das bislang aufsehenerregendste Symbol einer Kulturindustrie, die größere Umsätze als die gesamte Filmbranche erzielt.

Vom sonnigen Badestrand der Tokioter Bucht führen nur ein paar Treppen hinauf zum Eingang von Joypolis. Der Vergnügungspalast befindet sich hinter Betonwänden in einem modernen Gebäudekomplex. Am Tor ins virtuelle Paradies ersetzt eine Magnetkarte das Eintrittsbillett. Dann öffnet sich eine silberne Kugel. Drinnen herrscht eine Art Weltraumfinsternis, die nur durch das Leuchten unzähliger Bildschirme und kreisende Spotlights durchbrochen wird. Langsam werden die Konturen eines mehrstöckigen Atriums sichtbar. An den Seiten führen Rolltreppen zu Attraktionen wie „Aqua Nova“, einem dreidimensionalen Computerabenteuer unter Wasser, oder „Power Sled“, einem virtuellen Bobschlitten-Rennen durch die Alpen.

Architektur und Design von Joypolis ergeben eine Mischung aus Disco, Kaufhaus und Flughafen. Die Verfremdungseffekte sind bis ins Detail durchdacht: Aus scheinbar normalen Münztelefonen sprechen Monster und Ungeheuer. Mülltonnen schmatzen, und Sitzbänke schnarchen. Den Innenhof des Palasts füllt eine 20 Meter hohe Bühne, vor der buntgeschmückte Roboter tanzen. Über ihnen laufen auf Bildschirmen so groß wie Kinoleinwände die Werbespots von Sega: Grüße von Rennfahrern, Ringkämpfern und dem Hochgeschwindigkeit-Igel Sonic – Segas Leitfigur in etlichen Videospielen.

Das Lieblingsvergnügen von Kathy und Takehiro heißt AS-1, so der Name eines silbernen Raumschiffs, in dem Kinder lernen, wie man dem Leben auf Erden versuchsweise entkommt. Nach einer halben Stunde Wartezeit weist ein freundlicher Sega-Steward die beiden Kinder auf ihre Plätze an Bord. Anschnallen, Steuerknüppel und Laserkanone testen, dann kann's losgehen.

Eine „virtual-reality-movie-machine“ nennt Sega die AS-1. Drinnen läuft vor den Augen der achtköpfigen Besatzung ein Weltraumfilm ab, der je nach den Aktionen der Spieler einen anderen Verlauf nimmt. Bedient die Mannschaft ihre Steuerknüppel falsch, dann stürzen alle gemeinsam in eine mit feindlichen Kreaturen bevölkerte Unterwelt ab. Dort müssen die Spieler mit ihren Laserkanonen gründlich feuern, bis der Weg ins Weltall frei wird. Dabei wechseln Umgebung und Feinde so schnell, daß das Spiel alle Sinne belegt.

Kathy und Takehiro sind begeistert. Von überstandenen Ängsten wollen die Kinder nichts wissen, obwohl ihnen die virtuellen Feinde noch durch den Kopf schwirren. „Wir wissen doch, daß alles nur Spaß ist“, meint Takehiro, und seine Mutter lächelt zufrieden: „Wie cool die Kinder heute sind!“

Die Brüder Yasu und Miki geben sich im Alter von 11 und 13 Jahren bereits wie hartgesottene Video-Cowboys: „Joypolis ist anders, weil die dreidimensionalen Computergraphiken stärker sind. Die neuen Designs hier sind das Beste, was ich gesehen habe“, berichtet Yasu fachmännisch nach dem Kampf mit Riesenkraken in der Unterwasserstadt „Aqua Nova“. Damit verweist der Junge – bewußt oder unbewußt – auf das technologische Wunderwerk von Joypolis: Denn hinter den Bildschirmwelten stecken modernste Computerdesign-Techniken, wie sie derzeit nur in Simulationsapparaten des Militärs Verwendung finden. Dabei gilt: Je besser die Technik, desto realistischer kann sich der Spieler in der virtuellen Welt bewegen und sie während des Spiels beeinflussen. Das in dieser Hinsicht wohl am weitesten entwickelte Videospiel der Welt heißt „Virtua Fighter 3“ (VR 3), ein nahezu filmechtes Kampfspiel von Sega.

VR 3 ist der eigentliche Eröffnungs-Hit von Joypolis. Zwanzig Spielautomaten der neuen Art hat Sega zur Weltpremiere ausgestellt. Später soll das Spiel weltweit vermarktet werden. Prügelspiele wie Virtua Fighter liegen im Trend. Gegen den Rambo-Boom haben Spielfiguren wie Sonic von Sega oder der weltbekannte Video- Klempner Super Mario vom Konkurrenten Nintendo einen schweren Stand. Der Grund ist leicht zu erraten: Beim Prügelspiel dirigiert der Spieler mit dem Joystick die Körperbewegungen seiner Helden. Er kann die unterschiedlichste Würfe und Kinnhaken simulieren – oft mit erstaunlichem Effekt beim unterlegenen Gegner.

Satchiko, eine 21jährige Biotechnologie-Studentin aus Tokio, weiß genau, was sie an dem neuen VR-3-Spiel fasziniert: „Als Spielfigur wähle ich mir stets die bösesten Gestalten aus. Mit ihnen kann ich anstellen, was ich in Wirklichkeit nicht darf: die guten Menschen umlegen.“ Studienkollegin Saemi stellt ihre Motivation ganz anders dar: „Meine Prügelstars sind die Frauenfiguren von Sega. Sie sehen toll aus und können die stärksten Männer schlagen.“ Satchiko und Saemi interessierten sich bis vor kurzem kaum für Bildschirmspiele. Erst die neue Generation weckte ihre Aufmerksamkeit: „Die Spiele wirken so lebensecht, daß man sich ihnen nicht mehr entziehen kann“, sagt Satchiko.

Im Gegensatz zum Film basieren fast alle Joypolis-Attraktionen auf Interaktivität. Der Freizeitkonsument soll mitspielen. Am besten gelingt das in dem Horrorstück „The Crypt“. Jeweils zwei Spieler betreten die sogenannte Sega-Box, deren Wände, Boden und Decke Projektionsfläche für eine unterirdische Geisterwelt bieten. Alles, was das Auge in der Sega-Box aufnimmt, entspringt der digitalen Scheinwelt. Der Weg führt durch die Katakomben der Unterwelt, furchterregende Monster müssen mit dem Laser- Schwert besiegt werden, jede falsche Handbewegung kann einen neuen Feind ins Leben rufen. Nie ist virtuelle Realität perfekter inszeniert worden.

Wohin aber führen solche Abenteuer die Menschen? „Die Gefahr zu leugnen, daß sich Wirklichkeit und Unwirklichkeit in Joypolis verwechseln lassen, wäre eine billige Lüge“, meint Noboru, ein 20jähriger Student aus Yokohama. Das Nicht-mehr-unterscheiden- Können zwischen Realität und virtueller Realität war das einst schwer vorstellbare Katastrophenszenario der postmodernen Philosophie. In Joypolis erscheint der virtuelle GAU schon greifbar nahe. Doch wer dem Tamtam nicht verfällt, erlebt womöglich ein gutes Stück spielerischer Aufklärung. „Solange Waffenbesitz in Japan kein Problem ist, können wir mit virtuellen Waffen aller Art spielen“, meint Noboru. „Jeder muß mit der neuen Technik seine eigenen Erfahrungen machen.“