■ Warum verstehen sich Ost- und Westdeutsche nicht? Die Geschichte eines endlosen Mißverständnisses (2)
: Der stolze Habitus der Selbsthelfer

Nur wenige im Westen haben sich für den Osten interessiert. Aber gilt dies auch umgekehrt? Sind die Westler den Ostdeutschen ebenso fremd? Wohl kaum. Aus leicht nachvollziehbaren Gründen glaubten sich die DDR-Bewohner im Spätherbst 1989 nicht eigens aufgefordert, ihre Landsleute im Westen erst einmal verstehen zu lernen, meinten sie doch, schon bestens verstanden zu haben.

Jahrzehntelang hatten sie am Leben ihrer Brüder und Schwestern regen Anteil genommen. Sie kannten deren Politiker, Nachrichtensprecher und Showstars. Sie bezogen ihre politischen Informationen aus westdeutschen Medien. Was sie sahen, lasen und hörten, summierte sich zu einer schlichten Überzeugung: Die Westdeutschen hatten es nicht nur besser, sie konnten es auch besser.

Daß es auch im Westen Nepotismus und Korruption gab, daß auch deren Medien nicht nur die Wahrheit verkündeten, daß Rechtswege auch jenseits der Elbe lang und vergeblich sein konnten, beeindruckte die Ostler wenig. Was zählte, waren nicht diese kleinen und kleinlichen Gemeinsamkeiten, sondern die großen Unterschiede. Die allein sorgten für das günstige Bild, das sich die meisten Ostdeutschen von den Westdeutschen machten. Kurzum: Sie begegneten ihnen vor der Wende voller positiver Vorurteile.

Die Zeit unmittelbar nach dem Mauerfall bekräftigte das vorgefaßte Bild. Um sich in der veränderten Wirklichkeit orientieren zu können, mußten die Ostdeutschen verlernen, was sie bisher konnten, und lernen, was sie nunmehr sollten. Dabei waren sie von der Hilfe der Altbundesbürger abhängig. Die brachten den Novizen das Einmaleins der neuen Gesellschaftsordnung bei. Für eine kurze Zeit verhielten sich West- und Ostdeutsche wie Lehrer und Schüler. Der Wille vieler Ostdeutscher, vergessen zu wollen, bildete die Grundlage ihrer kurzen Eintracht mit denen aus dem Westen.

Aber so leicht vergißt man nicht. Mitten im schönsten Lernen stieß den Ostlern ihre Vergangenheit doch noch auf. Damit endete die Harmonie. Gewiß, die Westdeutschen verstanden sich auf alles besser. Aber das, worauf sie sich verstanden, geriet unter Verdacht. Sie konnten sich meisterhaft in Szene setzen und ihre Schwächen kaschieren: War das nicht aber eine eher verwerfliche Fähigkeit, einzig der Notwendigkeit geschuldet, Konkurrenten auszustechen? Sie beherrschten die Finessen des Rechtssystems: Doch hatten sie nicht gerade dadurch verlernt, Konflikte aus eigener Kraft zu lösen? Sie kannten für fast jede seelische Not die passende Therapie: Aber unterwarfen sie sich damit nicht der Macht von Experten?

Erfahrungen dieser Art verdichteten sich bald zu einem neuen Bild. Plötzlich hatten die Westdeutschen den Ruf von Formalisten weg, die keinen Schritt wagten, ohne zuvor Paragraphen und Ratgeber zu konsultieren, unwillig und unfähig, das Leben bei den Hörnern zu packen. Statt wie zuvor die Vorzüge des westlichen Gesellschaftssystems zu verkörpern, personifizierten die Westler in den Augen der Ostdeutschen nunmehr gerade dessen Mängel.

Wie kann man sich diese jähe Ablösung positiver durch negative Vorurteile erklären? Die nächstliegende Erklärung ist auch die simpelste: Der Alltag ist der Feind der Ideale. Anders als Sonntagsverhältnisse schließt er Verbindlichkeiten, gebrochene Versprechen und Enttäuschungen ein. Selbst beim besten Willen hätten die Westdeutschen die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllen können, die man im Osten Deutschlands in sie setzte. Aus der Nähe betrachtet, entpuppten sie sich als gewöhnliche Menschen. Waren es früher die Unterschiede, die besonders ins Auge stachen, so waren und sind es nun die höchst profanen Ähnlichkeiten. Wie das bei Ernüchterungen häufig der Fall ist, schlägt das Pendel nun in die entgegengesetzte Richtung aus. Dem Generalpardon folgte die Generalkritik.

Doch es ist mehr im Spiel. Mit ihrer Verurteilung der Westdeutschen kompensieren die Ostdeutschen nicht nur frühere Fehlprojektionen; sie entschädigen sich damit zugleich für die Folgen des Einigungsprozesses. Es steht außer Frage, daß die Ostdeutschen das westdeutsche Gesellschaftssystem wollten und wählten. Daß sie mehr davon bekamen, als ihnen guttat, ist ebenso gewiß.

Das „Modell Bundesrepublik“ wurde auch dort besinnungslos kopiert, wo es bewahrenswerte Traditionen gab: in der Landwirtschaft, im Gesundheits- und teilweise auch im Bildungswesen. Und ganz gewiß war die ostdeutsche Option auf die soziale Marktwirtschaft keine Option auf massenhafte Arbeitslosigkeit. Doch dies ist kaum noch zu revidieren. Diese praktische Ohnmacht treibt die Ostdeutschen in die symbolische Revolte. Sie machte den „Wessi“ zum Merkpunkt all dessen, was die DDR-Menschen bei reiflicherer Überlegung nicht gewollt hätten.

Ein letzter Punkt. Es war und ist das Selbstbild der Ostdeutschen, das ihr Verständnis der Westdeutschen bestimmt. Noch bis kurz über 1989 hinaus war dieses Selbstbild alles andere als großartig. Heute hat es sich aufgehellt, und im selben Maße haben sich die Züge des Westdeutschen verdunkelt. Darin liegt mehr verborgen als eine nachträgliche Beschönigung der eigenen Vergangenheit.

Wenn die Ostdeutschen die Geschichte der DDR jetzt auch als eine Geschichte der Individuen verstehen, erliegen sie nicht bloß einer Fiktion. Gehörte es doch zur Eigenart der DDR-Gesellschaft, daß ihre Bürger für fast alles selbst sorgen mußten – für Telefonanschlüsse, Wohnungen und nicht zuletzt für ihre Meinung. Das Herrschaftssystem war viel zu ineffizient und unglaubwürdig, um diese elementaren Leistungen zu erbringen. Es zehrte, im Gegenteil, parasitär von der Fähigkeit der Menschen, ihre Leben weitgehend selbst zu organisieren.

Es ist nicht zuletzt diese massenhafte Erfahrung von „Selbsthelfern“, die der Rede vom „Wessi“ eine mehr als nur taktische Bedeutung verleiht. Es macht einen gravierenden Unterschied im Habitus von Menschen, ob sie von ihrem Gesellschaftssystem getragen oder im Stich gelassen werden. Wolfgang Engler