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: Darin, dagegen

Auch Niklas Luhmann spricht in seinem neuesten Buch vom Körper als politischem Faktum – oder besser als Jenseits der Politik. In seiner Terminologie: „Körper als Umwelt der Gesellschaft“. Die Stelle sei zitiert, weil sie den Nimbus der Systemtheorie zerstört, zwangsläufig zu politischer Indifferenz führen zu müssen: „Zudem ist auch die Situation in den Favelas, wenn man das als Beispiel nimmt, oder Chiapas jetzt oder vieles in Afrika derart katastrophal, daß die Leute nur noch als Körper existieren und das Problem haben, wie sie den nächsten Tag erreichen und wie sie Gewalt und Hunger und Sexualität bewältigen können, also reine Körperphänomene, und das ist überhaupt kein Boden für soziale Bewegungen, es sei denn in Form religiöser Kulte.“ Luhmann muß sich damit auseinandersetzen, daß diese Massen von Leuten, die nicht einmal mehr ausgebeutet werden, auf dem Wege des normalen Prozessierens einer funktional ausdifferenzierten Weltwirtschaft produziert worden sind. Ein System, das auf Inklusion beruht, verursacht irreversible Exklusion in beängstigendem Ausmaß. Daß die sogenannte Marktwirtschaft, und sei sie auch sozial konnotiert, dabei abhelfen kann, glaubt Luhmann nicht. Durch die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus und den vermeintlichen Sieg über ihn, schreibt Luhmann, sind wir motiviert, unergiebige Schemata zur Selbstbeschreibung zu wählen: „Es könnte ja sehr wohl sein, daß der sozialistische Gedanke einer ethisch-politischen Steuerung der Wirtschaft so verfehlt war, daß es auch noch verfehlt ist, sich davon unterscheiden zu wollen. Es war, könnte man meinen, derart absurd, daß es nichts Positives sagt, wenn man feststellt: Wir haben diesen Irrweg vermieden. Sowenig wie die Landtiere etwas Sinnvolles über sich erfahren, wenn sie eines Tages feststellen, daß sie nicht so leben und nicht so umkommen wie Fische im Wasser.“

Das eigentliche Thema dieser verstreuten Arbeiten sind die Protestbewegungen – Feminismus, Ökologie, Friedensbewegung – als Teil der modernen Gesellschaft. Anders als die politische Opposition, die ja mindestens so tun muß, als wolle sie regieren, macht es die Eigenart des Protests als sozialer Form aus, daß ein Wechseln auf die andere Seite per se ausgeschlossen wird. Wer protestiert, redet stets, als ob er die Gesellschaft von außen beobachten könnte. „Man ist und bleibt alternativ“ – ob als Marxist, Ökologe oder Streiter für die Erniedrigten und Beleidigten in Ostdeutschland. Luhmann fragt sich, warum die Gesellschaft sich eine solche Form von Kommunikation leistet.

Eine These lautet: „Eine Gesellschaft ist autopoietisch geschlossen immer dann, wenn sie ihre eigene Negation in sich selber aufnimmt und nicht von außen kritisiert werden kann, und dann könnte man sagen: Die Negation oder die Kritik der Gesellschaft ist ein Teil der Gesellschaft, und das sei eben die Funktion der sozialen Bewegungen...“

Eine Gesellschaft, deren Fortbestand auf so unwahrscheinlichem und riskantem Zusammenspiel beruht wie die unsere, muß sich irritationsfähig halten, deshalb „hat die Rhetorik des Warnens, Mahnens und Forderns die Seite gewechselt. Sie zielt nicht mehr im Interesse der Ordnung gegen den Sünder, sondern begünstigt den Protest... Die Ordnung der Sünde hatte von der Möglichkeit profitiert, die Gesellschaft in der Gesellschaft verbindlich zu repräsentieren. Die Ordnung des Protests profitiert davon, daß dies nicht mehr möglich ist... Man denkt im genauen Sinne in der Gesellschaft für die Gesellschaft gegen die Gesellschaft.... Nichts spricht dafür, daß die Protestbewegungen die Umwelt besser kennen oder richtiger beurteilen als andere Systeme der Gesellschaft.

Genau diese Illusion dient jedoch den Protestbewegungen als der blinde Fleck, der es ihnen ermöglicht, Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation zu inszenieren und damit die Gesellschaft mit Realität zu versorgen, die sie anders nicht konstruieren könnte.“

Wenn das keine Dialektik ist! Buch des Jahres. Wir werden darauf zurückkommen müssen.

Niklas Luhmann: „Protest“. Herausgegeben und eingeleitet von Kai-Uwe Hellmann, Suhrkamp Taschenbuch, 216 Seiten, 19,80DM