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: Exil für alle

Im Frühstücksraum eines nachlässig-edlen Golfhotels am Starnberger See ist man heutzutage nicht darauf gefaßt, einer Exilantin zu begegnen, es sei denn unter den Bediensteten: Unsere heutigen Exilanten sind ja in der Regel abgerissene Gestalten, die im Vergleich zu den aristokratischen Revolutionsflüchtlingen früherer Tage meist eine recht traurige Figur machen. Anders diese silberhaarige, dezent wohlgekleidete Dame, die am Tisch unserer Konferenzgesellschaft Aufnahme gefunden hatte. Nach einem munteren Geplauder über die Frage, in welcher deutschen Stadt sich um welchen Preis halbwegs angenehm leben ließe, verriet sie, daß sie ganz und gar nicht zum Vergnügen in diesem komfortablen Etablissement logiere: Sie war aus ihrem natürlichen Habitat, einer Wohnung am Münchener Odeonsplatz, durch terroristische Exzesse der Freizeitgesellschaft vertrieben worden. Unmittelbar unter ihrem Fenster nämlich waren am Vorabend vor 30.000 Menschen die „Drei Tenöre“ aufgetreten, wodurch sich eine der erlesensten Wohnlagen Münchens in das Epizentrum eines Rummelplatzes verwandelt hatte.

Daß hier statt Bratwürsten die Leckereien von Feinkost-Käfer verzehrt wurden und statt der größten Hits von Bon Jovi ein Potpourri der „schönsten Opernarien“ in extremer Lautstärke geboten wurde, daß man also den hier Ansässigen mit verzerrten Formen ihrer eigenen Vergnügungen zu Leibe rückte, machte die Sache für die Vertriebene nicht leichter, sondern im Gegenteil vollends unerträglich.

Ich war fern davon, die Klagen dieser Dame unberechtigt zu finden oder sie mit dem hämischen Gedanken zu quittieren, derlei geschehe ihresgleichen nur recht – aber irgendwie erfüllte mich die Gewißheit mit seltsamer Genugtuung, daß Gesellschaftskritik in dieser Gesellschaft das Schicksal aller ist: oben, in der Mitte oder unten, rechts, liberal oder links – es gibt kein Jenseits der allgemeinen Beschwerde. Außer in den seltenen Momenten, wo wir dabei zusehen können, wie andere wider ihren Willen und vielleicht sogar ganz gegen ihre eigentlichen Talente Gesellschaftskritiker werden.

Mit dem neuen Essay von Hannelore Schlaffer über „Schönheit“ ist es mir ganz ähnlich ergangen wie mit der silbernen Dame vom Odeonsplatz, für die der kollektive Freizeitpark Deutschland zur Vorhölle plebejischer Erlebnisfixierung geworden war. Auch Schlaffers Thema ist die Häßlichkeit der Demokratie, und ihr Buch will als Protest dagegen gelesen werden: „Die ungezwungenen Gesten des Strandlebens prägen nun den Habitus auch der Innenstädte. Die ersten Seufzer über den Untergang von Schönheit und Sitte waren über Touristen zu hören. Heute beurlaubt sich jeder, der in die City geht. Unsere Straßen sind Strandpromenaden geworden, unsere Parks Liegewiesen, die Brunnen Planschbecken, kurz: Unsere Städte werden als Ferienorte geliebt... Hier wie dort gehen und sitzen die Menschen in Ferienkleidung, die nicht gefallen will, sondern bequem und natürlich ist...“

Nicht nur das Häßliche ist verläßlich, auch die Kritik daran. Und darum hat es keinen Sinn, eine Gegenrede zu solcher Rede anzustimmen: „Mag sein, daß die Eroberung des öffentlichen Raums [wie etwa des Englischen Gartens – J.L.] durch die Nacktheit am Anfang des Jahrhunderts ein ästhetischer Gestus war, an dem sich beteiligte, wer sich antikischer Schönheit verpflichtet fühlte. Heute jedenfalls bewirkt die Überschwemmung der Wiesen mit Busen, Hintern, Bäuchen nur die Zerstörung der schönen Natur, die Friedrich Ludwig von Schell zur Erheiterung des Auges...“ Dieses Verfallsschema ist ewig, unwiderlegbar und offensichtlich unverzichtbar für die Klasse von Selbsthaßexperten, als die die moderne Gesellschaft sich unseresgleichen leistet. Wir können die Informalisierung der Sitten, den jetzt auch in den niederen Schichten verbreiteten und zur Schau gestellten Hedonismus, nicht anders als mit Panik zur Kenntnis nehmen. Hannelore Schlaffer weiß das zwar – „die ästhetische Abwertung der anderen ist die ungefährlichste Art des Selbstschutzes“, so schreibt sie am Ende. Aber sie kann einfach nicht anders. Ihr ganzes Buch ist in diesem Sinne Selbstschutz, für ungefährlich kann dies allerdings nur halten, wer die Geschichte der Intellektuellen ausblendet.

Die Intellektuellen müssen sich jetzt entscheiden, ob sie sich weiterhin – nach all den großartigen Pleiten – mit dieser Sorte mutwillig naiven Protests begnügen wollen, oder ob es nicht langsam an der Zeit wäre, ihre blinden Flecken ein wenig der Sonne auszusetzen.

Hannelore Schlaffer: „Schönheit. Über Sitten und Unsitten unserer Zeit“. Verlag Antje Kunstmann, 1996, 125 Seiten, 28DM