: Der schöne Popo des Pygospio elegans
Hans-Herrmann Kramer liebt seine Würmer und haßt schwarze Flecken im Watt, wo jedes Leben erstickt ist. Die Forschungsstelle Küste erforscht die Nordsee und bekämpft ihre Vergiftung ■ Aus Norderney Bascha Mika
Der Mann sieht aus wie einer, der loszieht, einen Schatz zu heben. In kniehohen Stiefeln marschiert er voran, in der rechten Hand einen Spaten, in der linken ein Rohr und ein großes Sieb, über der Schulter eine breitriemige Tasche. Bei jedem Schritt sacken die Stiefel des Mannes im Modder ein. Wo die Sohle die dünne, nußbraune Schicht an der Oberfläche zerstört, bleiben anthrazitgraue, fast schwarze Spuren.
Einige hundert Meter vom Ufer entfernt legt der Mann sein Gerät auf den feuchten Boden. Ein paar Austernfischer fliegen schrill schreiend davon. Er rammt das Rohr, einen Zylinder von gut zwanzig Zentimenter Durchmesser und 40 Zentimeter Länge, mit Wucht in den Grund und beginnt die Erde rundherum wegzuschaufeln. Leise schmatzend löst sich die Röhre aus dem Morast, als die Spatenspitze darunterfährt. Ein Zylinder voll Watt. Der Räuber hat seinen Schatz gehoben. Im Namen der Wissenschaft.
Auf der Nordseeinsel Norderney sitzt die Wissenschaft in der „Forschungsstelle Küste“, einer Außenstelle des niedersächsischen Landesamtes für Ökologie. Biologen, Morphologen, Mathematiker und Ingenieure brüten hier über Phänomenen, die Wasser, Strömung und Seegang so mit sich bringen. Sie vermessen, kartieren, bewerten. Sie holen das tierische und pflanzliche Leben der Küsten- und Wattregion unters Mikroskop: Gräser, Plankton, Schnecken, Würmer, Muscheln. Und sie registrieren die Schweinigeleien, die der Mensch hinterläßt – die Öle, Salmonellen, Schwermetalle, Nährstoffe. Ökosystemforschung nennt man das.
Der Wattgänger im Seeräuberlook ist Laborant der Forschungsstelle und heißt Hans-Herrmann Kramer. Weil er ein echter Insulaner ist, trägt er einen goldenen Ring im Ohr: alte Norderneyer Tradition. In den Ohrring ließen die Fischer ihren Namen eingravieren – so konnten sie als Wasserleiche auch nach langer Zeit noch identifiziert werden; zusätzlich waren mit dem Ring die Kosten für ihr Begräbnis gesichert. Kramer ist 61, Vater von sechs Kindern, und er liebt Würmer. Niemand kennt die wimmelnden Wesen des Watts besser als er.
Da! Hat er einen! Auf seinem Spaten, den er tief in den Schlick gestoßen hat, krümmt sich das Ungeheuer von Loch Ness im Miniformat. Gut fünfzehn Zentimeter lang, mit dickem Kopfteil und kräftigen Ringen: Arenicola marena, der gemeine Wattwurm, einer der größten und wichtigsten Bewohner des Modders. Kramer beäugt ihn, läßt ihn dann aber wieder entfleuchen. Er gehört ja nicht zur entnommenen Probe. Die schüttet Kramer aus dem Zylinder in sein Goldwäschersieb und spült sie kurz in einem Priel durch. Was größer ist als ein Sandkorn, bleibt in dem feinen Netz hängen und wird als Beute ins Labor getragen.
Im roten Backsteinhaus, in dem die Dienststelle untergebracht ist, lauert ein präparierter Hai im Korridor, und ein Oktopus glubscht neugierig aus seinem Formalinbad. Scheinbar das einzig Aufregende in diesen Mauern. Dabei war hier vor ein paar Wochen der Teufel los. Hastige Anrufe von Vorgesetzten, hoher Besuch aus dem Ministerium, quengelnde Journalisten an der Strippe. Im Juni hatten die Biologen der Forschungsstelle Alarm ausgelöst: „Schwarze Flecken im Wattenmeer. Neue, riesige Ausdehnung der Bereiche, in denen alles Leben erstorben ist.“
Und wie immer – und immer erst dann – wenn eine Ökokatastrophe sichtbar wird, gab es Panik: Die niedersächsische Umweltministerin Griefahn tourte ins Watt, Urlauber fürchteten um ihre Ferien, und die Kurdirektoren der Inseln beschimpften den Leiter der Forschungsstelle als „apokalyptischen Vorreiter“. In der Süddeutschen Zeitung drohte „Der Tod im Sand“ und der Spiegel protokollierte „Die letzten Warnsignale“. Kurz und heftig war die öffentliche Reaktion. Seitdem siecht das Watt zwar weiter vor sich hin – doch ohne Publikum.
Wäre da nicht die Forschungsstelle Küste. Für ihre Wissenschaftler sind die schwarzen Flecken keine Eintagsmeldung – schließlich wurden sie hier erfunden, oder besser: gefunden. Bereits 1984 hatte einer der Biologen die eigenartige Erscheinung entdeckt; er stellte fest, daß der schwarze Untergrund des Watts, in dem es keinen Sauerstoff gibt und damit kein Leben, teilweise bis an die Oberfläche vorgedrungen war; Tausende Mikroorganismen und eine Vielzahl von Lebewesen, die in der darüberliegenden, sauerstoffreichen Schicht gelebt hatten, waren zugrunde gegangen. Der tote Teil des Watts erhob Anspruch auf den lebendigen.
Seitdem gehören die Flecken zum Untersuchungsrepertoir. Jedes Jahr wurden sie ein wenig größer – bis sie in diesem Sommer wucherten, wie Pilze an einer feuchten Wand. „Es hat jedes bisher beobachtete Ausmaß übertroffen“, stellte der Biologe Michael Hanslik bei einem Routineflug entlang der Küste erschrocken fest. Anfang Juni waren rund fünf Prozent der Wattfläche zwischen Borkum und Wangerooge betroffen. Inzwischen sind die Flecken je nach Wetter mal mehr, mal weniger sichtbar. Neue, sauerstoffhaltige Ablagerungen setzen sich auf die Oberfläche und lassen das Watt hellbraun und gesund erscheinen. Doch dieser Belag ist hauchdünn. „Das ist wie bei einer chronischen Krankheit“, sinniert Hanslik.
Der plötzliche Schub im Krankheitsverlauf habe verschiedene Gründe, meint er, natürliche und von Menschen gemachte. Verschiedene Faktoren seien zusammengekommen: Strenger Eiswinter und kühles Frühjahr, dann eine Hitzeperiode und eine ungewöhnliche Kieselalgenblüte, die jahrzehntelange Einleitung von Nähr- und Schadstoffen, die Fischerei, die gnadenlose Ausbeutung von Muschelbeständen. „Und wenn dann noch ein Tanker sein Öl vor der Küste abläßt ... Irgendwann kommt der letzte Kick.“
Bei einem Bündel von Ursachen gibt es keine Sofortmaßnahmen. Nicht nur im Fall der schwarzen Flecken besteht für die Wissenschaftler ein Teil der Arbeit in ständiger, zäher Aufklärung. Der kleine Haufen auf Norderney ist ein ökologisches Bollwerk im Land und fühlt sich auch so – eingeschworen in seiner Stinkwut auf die Übermacht an Ökotriebtätern und feigen, lahmarschigen Politikern. Eigentlich hat die Forschungsstelle nur beratende Funktion. Doch tatsächlich kommt niemand, der in der Küstenregion ein Projekt plant oder ein ökologisches Problem hat, an ihr vorbei. Dafür haben die 60 Mitarbeiter in den letzten Jahren gesorgt.
Nirgendwo sonst in der Bundesrepublik arbeiten die unterschiedlichen Disziplinen so eng zusammen. Selbst Küstenbauingenieure, berüchtigt für ihren Trieb, mit Zement und Beton einen lächerlichen Krieg gegen die Elemente zu führen, lernen hier ein klein wenig Demut. In der Philosophie des Hauses wird der Natur viel Spiel eingeräumt, die Begierde des Menschen steht nicht obenan. Bei Michael Hanslik steht sie sowieso ziemlich weit unten. Der Westfale, der aussieht wie ein Ostfriese und mehr für die Norderneyer Kalkalge übrighat als für die Insulaner, begreift die „Panik als Chance, um in Sachen Natur“ zu arbeiten. „Es ist zwar pervers“, sagt der Biologe, „aber wir haben uns daran gewöhnt, daß nur noch Katastrophen öffentlich Aufmerksamkeit erregen.“
Doch wenn daraus etwas folgen soll, braucht es Forschungsergebnisse. Eine der Grundlagen dafür liefern Hans-Herrmann Kramer und seine Würmer. Im Labor hat er die Ausbeute der Bodenprobe in eine Glasschüssel geleert. Einen feuchten Haufen aus grauen Schalen und Krusten, dicken, ausgefransten Fäden und dünnen Fuseln. Kramer schüttet Meerwasser dazu, plötzlich zuckt's, zappelt's und windet sich's. Der Haufen strampelt vor Leben. „Die schönsten Formen und Farben“, seufzt der Laborant entzückt beim Anblick der winzigen Schnecken, Muscheln, Krebse und Würmer, „dafür kann ich mich immer wieder begeistern.“ Immer wieder seit dreißig Jahren. So lange arbeitet er hier.
Alles was lebt, wird er aus der Schüssel heraussuchen; er wird die Tierchen sortieren – bei einigen braucht er dazu das Mikroskop –, er wird sie zählen und dann mit einem Schuß Alkohol töten. Er wird sie zwei Tage bei 60 Grad trocknen und anschließend wiegen. Zum Schluß wird er ihre Körper bei 485 Grad verglühen. Das ganze, um die Biomasse auszurechnen, die sich in der Bodenprobe befunden hat: die Differenz zwischen dem Trockengewicht der Tierchen und dem Gewicht der verglühten Masse. Und er wird feststellen: Auch dort, wo er die Probe genommen hat, jenseits der schwarzen Flecken, ist die Biomasse im Laufe der Zeit geringer geworden. Kramers Fazit nach dreißig Jahren Beobachtung: „Äußerlich hat sich das Watt kaum verändert. Aber die Artenvielfalt ist kleiner geworden.“
Gott sei Dank ist Kramers Lieblingswurm nicht betroffen. „Da haben wir den Nereis diversicolor“ – vorsichtig packt er ein borstiges Ungeheuer mit der Pinzette unter das Mikroskop – „der kann seinen Rüssel ausfahren.“ Ein kurzer Blick in die Schüssel, ein schneller Griff, der nächste Wurm turnt an der Pinzette herum. Selbst mit bloßem Auge ist sein vierzipfliges Schwanzsegment zu sehen. „Doch den hübschesten Hintern,“ grinst Kramer, „hat zweifellos der Pygospio elegans.“
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