■ Die Reform des Staatsbürgerrechts stockt. Selbst das Multikultimilieu scheint an einer Änderung desinteressiert
: Die Politpalaverschickeria

„Schwere soziale und politische Konflikte sind in der Bundesrepublik vorgezeichnet, wenn an dem auf dem Blutsrecht basierenden Staatsangehörigkeitsrecht festgehalten wird.“ So warnte Ende Oktober 1989, wenige Tage vor dem Fall der Mauer, der Staatsrechtler Dieter Oberndörfer im Berliner Reichstag eindringlich vor den Folgen, wenn die Bundesrepublik weiter an der Lebenslüge, sie sei kein Einwanderungsland, festhalte.

Bekanntlich sollte Oberndörfer recht behalten. Allerdings gingen die Unruhen nicht, wie befürchtet, von den von Bürgerrechten ausgeschlossenen Immigranten, sondern von Deutschen aus.

Nach den Mordanschlägen von Mölln und Solingen waren sich schließlich alle politischen Parteien darin einig, daß das alte Staatsbürgerrecht aus dem Jahr 1913 dringend einer Reform bedarf. Selbst Bundeskanzler Helmut Kohl nahm schon mal das in seinen Kreisen ansonsten höchst unbeliebte Wort „Rassismus“ in den Mund. Wolfgang Schäuble dachte kurz laut über die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft nach.

Zu offensichtlich war, daß das Abstammungsprinzip (das ius sanguinis) nicht nur der Identitätskitt der erweiterten Bundesrepublik sein sollte, sondern gleichzeitig als Schmieröl für rassistische Exzesse diente. Geändert hat sich trotz dieser Geistesblitze nichts.

„Deutschland muß sich endlich dazu bekennen, Einwanderungsland zu sein!“ Wie häufig kann man einen solchen Satz wiederholen, ohne ein müdes Gähnen und gelangweiltes Abwinken im Publikum zu provozieren? Offensichtlich nicht allzu häufig. Nur so läßt sich erklären, warum Themen wie das Staatsangehörigkeitsrecht für längere Zeit aus der Diskussion verschwunden sind. Für Partygespräche geben sie inzwischen ebensowenig her wie als Futter für Profilneurotiker.

Inzwischen sehen sich SprecherInnen der Interessenvertretungen von Migranten gezwungen, abenteuerliche Zusammenhänge zu konstruieren, um sich überhaupt noch Gehör zu verschaffen. Jede kleine Randale türkischer Jugendlicher muß als Argumentationshilfe herhalten. Etwa nach dem Muster: „Das mußte (konnte nur) passieren, weil sie sich als Menschen zweiter Klasse fühlen.“ Ein unwürdiges Spiel. Keinem der Beteiligten ist bei einer solch offensichtlichen Reduzierung komplexer sozialer Wirklichkeiten wirklich wohl. Aber anders als mit der Holzhammermethode sind die wahlberechtigten Bürger, ohne deren erklärten Willen in der Sache nun mal nichts läuft, offensichtlich nicht zu erreichen.

Seitdem mit überdurchschnittlicher Intelligenz und Verstand ausgestattete Politiker der CDU Mitte Juni die Reform des alten Staatsangehörigkeitsrechts von 1913 forderten, köchelt die Diskussion wieder vor sich hin. Selbst die Hardliner in der CSU und CDU fühlen sich nun zu Kompromißvorschlägen bereit. Aber es wäre zu einfach, die Verantwortung für die bislang nicht erfolgte Reform des Staatsangehörigkeitsrechts allein blutsfixierten, deutschtümelnden Dickschädeln zuzuschreiben.

Werfen wir nur einen kurzen Blick auf den liberalen Teil der Gesellschaft, jenes Milieu, das keine Gelegenheit ausläßt, sich um das Gemeinwohl zu sorgen. Auch dort ist die Diskurskarawane längst weitergezogen. Viele, die angelegentlich der Rostocker Vorfälle die Probleme des auf Blut basierenden Abstammungsrechts entdeckten, haben längst andere Probleme und den Unterschied zwischen ius sanguinis und ius solis vergessen – zumindest deren Brisanz. Inzwischen geht es ihnen nicht mehr vordringlich um eine Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts, sondern um mehr Staatshörigkeit. Die Politpalaverschickeria, manche nennen sie auch die (querdenkenden, tabulosen) Intellektuellen, profiliert sich auf neuen Schlachtfeldern: Arbeitslager für Arbeitslose fordert sie, Studiengebühren, Wehrsteuer für Ungediente und die Aufhebung der Koedukation. Anything goes – solange es nur Aufmerksamkeit erregt.

Es liegt bereits geraume Zeit zurück, daß der eine oder die andere meiner (deutschstämmigen) Freunde tatsächlich mal drei, vier zusammenhängende und intelligente Gedanken auf dieses für die Immigranten und für die Zukunft der Republik so wichtige Thema verschwendete.

Okay, damals inmitten der neonazistischen Offensive dämmerte ihnen, daß Deutschland nicht wirklich zur Ruhe kommt, das Land nicht den von ihnen gewünschten Zivilisationsgrad erreichen wird, bis das Abstammungsprinzip durch das ius solis (Territorialprinzip) ergänzt ist.

Aber in die Köpfe und Herzen der Freunde ist die Erkenntnis um die Bedeutung des anachronistischen Staatsangehörigkeitsrechts nicht gedrungen. Nicht anders ist zu erklären, daß sich die Bevölkerung bei Umfragen regelmäßig mehrheitlich für den ganzen Schnickschnack einer multikulturellen Gesellschaft ausspricht: für ein Wahlrecht für Ausländer, für eine Ergänzung des Staatsangehörigkeitsrechts, für Ausländer in der Polizei und so weiter.

Warum setzte sich die gesellschaftliche bislang nicht in eine parlamentarische Mehrheit und folglich in entsprechende Gesetzesinitiativen um? Die Antwort ist banal: Der Mehrheit ist das alles nicht wirklich wichtig, zumindest nicht so sehr, daß sie eine Wahlentscheidung davon abhängig machen würde. Den erklärten Gegnern, einer Minderheit, allerdings schon. Die Folge: Parlamentarier können sich getrost über den (schwachen und amorphen) Mehrheitswillen hinwegsetzen.

Sie brauchen sich deshalb nicht zu ängstigen, von der Macht verjagt zu werden – und zwar noch aus einem anderen Grund. Der Mythos vom edlen Ausländer beginnt zu verblassen. Selbst bei etwas weltfremden Philanthropen hat sich herumgesprochen, daß Einwanderer mitunter ziemlich antiwestlich, antidemokratisch, ja fundamentalistisch sein können. Es werden Wetten angenommen, wann aus deren Ecke Einwände geltend gemacht werden – etwa nach dem Motto: „Deutsch wird nur, wer eine demokratische Gewissensprüfung absolviert!“ Leise gedacht wird dies ohnehin schon. Eberhard Seidel-Pielen