Sammler der eigenen Zeit

Der Ex-Stasi-Offizier und DDR-Mauerbeauftragte Hagen Koch hat in seiner Lichtenberger Wohnung ein umfassendes Mauerarchiv zusammengetragen  ■ Von Eva Behrendt

Schrille Graffiti auf Betonsegmenten und vielleicht ein Kupferstreifen, der den Mauerverlauf nachträglich so markiert, wie ihn die Bewohner West-Berlins wahrnahmen – das könnte schlimmstenfalls sein, „was künftig von der Mauer bleibt“. Solches befürchtet jedenfalls Hagen Koch, der als Gefreiter und Kartograph am Maueraufbau vor 35 Jahren ebenso beteiligt war wie an deren Abriß und Veräußerung nach der Wende: Der heute 56jährige wurde 1990 von Lothar de Maizière als „Sonderbeauftragter“ in Sachen Mauer eingesetzt. Seither hält Koch die Augen offen und sammelt, was ihm an historischen Mauerzeugnissen in die Finger gerät. Als Privatmann unterhält er heute das wohl umfangreichste Mauerarchiv „aus der Sicht des Ostens“.

Zu Hause im achten Stockwerk eines Plattenbau-Elfgeschossers in Lichtenberg hortet Koch auf engstem Raum alles, was mit ihm und der Mauer zu tun hat: 1084 Panoramafotos aus den Jahren 1988/89, die den kompletten Verlauf der Mauer zeigen, Jubiläumsschriften der Grenzbataillone, grafische Darstellungen der Sicherheitssysteme, Schriftstücke aus den Stasi- Führungsetagen, welche die Erschießungen an der Grenze ebenso bezeugen wie Honneckers Planungen für die „Mauer 2000“. Aber auch Schränke voller Prozeßakten, Briefwechsel, Zeitungsartikel: der 56jährige dokumentiert damit nicht nur die Mauer, sondern gleichzeitig seine eigene Vergangenheit.

Koch war bei der Stasi, und das 25 Jahre lang. Aus dieser Tatsache hat der ehemalige Kulturoffizier des Wachregiments „Feliks Dzierzynski“ des MfS nie einen Hehl gemacht: In Täter-Opfer-Gesprächen des Mauermuseums am Checkpoint Charlie stellt er sich dem Dialog mit denen, die unter Stasi-Repressalien zu leiden hatten; die Bundeswehr lädt ihn gerne als Referenten ein, der den MfS- Betrieb „von innen“ kennt und sich zugleich kritisch mit ihm auseinanderzusetzen versucht.

Daß er 1961 ein begeisterter Verfechter des „antifaschistischen Schutzwalls“ war, hat Koch nicht vergessen. Er sei ganz im Sinne der jungen sozialistischen Republik erzogen worden. „Daß die Mauer eigentlich nicht gegen den Westen, sondern gegen die Bürger im Osten gerichtet war“, sei ihm erst langsam im Laufe seiner „Stasi- Karriere“ aufgegangen. Der Offizier blieb der Stasi gegenüber dennoch loyal, „weil man in deren Nischen ganz gut leben konnte. Den Konsequenzen, die ein Bruch mit der Stasi gehabt hätte, wollte ich mich damals nicht stellen.“

Trotzdem bemüht er sich zu erklären, daß auch er, der angepaßte Mitmacher, sich durch „schlitzohrig-taktisches Verhalten“ vor „verantwortungsvollen Aufgaben zu drücken versuchte“. Deshalb sei er auch erst nach siebeneinhalb Jahren Oberstleutnant geworden.

Den unauffälligen Mittelweg dankt Koch allerdings heute niemand. Die Stadt Berlin ignoriere ihn und seine archivarischen Bemühungen aufgrund seiner Stasi- Vergangenheit, klagt der Sammler. Fördermittel, wie jeder sich selbständig machende Arbeitslose sie üblicherweise erhält, blieben dem Mauerspezialisten verwehrt. „Die Berliner differenzieren nicht“, seufzt Koch, „einmal Stasi – immer Stasi. Aber im Grunde kann ich nicht mal böse sein: Die machen bloß denselben Fehler, den ich früher begangen habe.“

Am meisten ärgert Koch, daß es der Stadt gelang, ihm ein Modell der Mauer zu entreißen, welches der Privatarchivar auf einem Müllplatz in Perleberg entdeckt hatte. Das gute Stück stand schon – von Koch liebevoll restauriert – mit Leihvertrag im Berlin-Museum, als „das Kernstück“ seines Archivs beschlagnahmt wurde. Koch klagte auf Wiederherausgabe – und verlor, weil zur gleichen Zeit die Zentrale Ermittlungsbehörde für Regierungs- und Vereinigungskriminalität ein Verfahren gegen ihn anstrengte. „Dabei ist es doch so: Wenn ich damals nicht zugegriffen hätte, wären die Akten im Reißwolf verschwunden!“

Wahrscheinlich, sinniert Koch, neide man ihm einfach seine Archivschätze. Mit der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße, meint der Mauerspezialist mit einem Anflug von Häme, kämen die Berliner ja auch nicht so recht voran. Auch die Stasi-Verbliebenen, mutmaßt er, würden ihn wohl am liebsten zum Teufel schicken, weil er bereitwillig deren Interna ausquatscht.

Wenn der Privatarchivar Besucher durch seine Fotogalerie im Flur führt – Koch mit Christo und Jeanne-Claude, Koch auf dem Mannheimer SPD-Parteitag, Koch bei der Mauerversteigerung in Monte Carlo –, wenn er bei der Präsentation seines Aktenschatzes immer wieder seinen Namen nennt – „Sehen Sie hier, Hagen Koch!“ –, wird klar, daß es dem Ex-Offizier nicht nur um die Aufarbeitung der Mauervergangenheit geht, sondern auch darum, seine eigene Person ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Kann „ehrliche Selbstbefragung“ ernst genommen werden, wenn deren Motivation zu einem guten Teil Eitelkeit ist?

Fest steht, daß Hagen Koch einen unschätzbaren Vorsprung zumindest gegenüber denjenigen hat, die den Mythos ihres Dissidententums nicht freiwillig auflösten, sondern das skandalträchtige Outing den Medien oder Aktenbearbeitern überliessen. Koch scheut den Vergangenheitsstriptease nicht. Doch schließlich – Geltungsdrang hin oder her: Kochs Anliegen, den östlichen Blick auf die Mauer zu konservieren, hat Berechtigung.