Füsse küssen als Allheilmittel

■ Jeden Freitag verehren Tausende eine Jesusstatue in der Innenstadt von Madrid. Vor allem die arme Bevölkerung erhofft sich Hilfe bei ihren Sorgen und Nöten

Einzeln treten die Menschen vor die handgeschnitzte, fast lebensgroße Jesusstatue. Sie blicken andächtig nach oben, beugen sich langsam nach vorn und küssen den rechten Fuß, der unter dem kunstvoll gewebten violetten Gewand herausschaut – manche mit gespitzten Lippen, um allzu große Berührungen mit dem kühlen, 350 Jahre alten Holz zu vermeiden, andere mit schon fast erotischer Hingabe. Danach bekreuzigen sie sich und gehen lautlos weiter.

Eine Nonne, die neben der Statue auf einem Stuhl Platz genommen hat, wischt den Fuß ab. Der Nächste bitte. Nur das Geräusch der in den Opferstock fallenden Münzen durchbricht alle paar Sekunden die Stille. Freitag für Freitag will die Schlange vor der Kirche Jesus de Medinaceli in der Madrider Innenstadt nicht abreißen.

Auf die Frage, warum sie kommt, antwortet die 15jährige Miriam: „Familientradition.“ Als die Großmutter einst in den fünfziger Jahren aus dem andalusischen Städtchen Jaén ins große Madrid kam, flehte sie die Statue um Hilfe beim Start in der neuen, fremden Umgebung an. „Jesus erhörte sie. Seither beten wir immer hier, wenn eine wichtige Entscheidung ansteht“, erzählt Miriam, die den Brauch weiterführt. Dieses Mal will sie sich für die gelungenen Jahresabschlußprüfungen am Gymnasium bedanken.

Auch der Enddreißiger hinter Miriam ist der Jesusstatue zu Dank verpflichtet. „Heute vor acht Jahren erbat ich, daß er mir behilflich sein solle, die Frau meines Lebens zu erobern“, sagt Rafael. Es hat geklappt. Maria Angeles, wie Rafael Religionslehrerin in der Grundschule, begleitet ihren Mann seither Jahr für Jahr auf dem Gang zur Statue. Beide lächeln glücklich.

„Ein einfacher, schlichter, ergebener Glaube“, beschreibt der Superior des zur Kirche gehörenden Kapuzinerklosters, Inocencio Ejiro, das Phänomen. „Die Menschen kommen vor allem aus den armen Vororten der Hauptstadt hierher“, erzählt der Pater. Drogenfälle in der Familie, Beziehungsprobleme, Arbeitslosigkeit, die Liste der Bittstellungen ist lang. „Hier geht es nicht um große Wunder wie zum Beispiel in Lourdes“, sagt Pater Inocencio. Vielmehr sei es der Wunsch, bei großen und kleinen Problemen und Entscheidungen des täglichen Lebens nicht allein gelassen zu werden, der die Menschen stundenlang in der Schlange ausharren läßt, egal ob bei stechender Sonne oder kaltem Wind.

Am stärksten ist der Andrang am ersten Freitag im März. Die Nähe der Osterwoche läßt mehr als eine halbe Million Gläubige zusammenströmen. Sie kommen in Sonderbussen aus dem ganzen Land. Die Schlange beginnt sich bereits dienstags zu bilden. Am Freitag um Mitternacht ist sie dann mehrere Kilometer lang. Die Polizei muß den ganzen Stadtteil für den Verkehr sperren. Bis in die frühen Morgenstunden des Samstags küssen die Scharen ihren Jesus.

Eigentlich könnte der Hirte ob so vieler Schäfchen zufrieden sein, wäre da nicht ein kleines Problem: „Die Verehrung einer Statue oder eines Bildes ist in der theologischen Debatte umstritten“, erzählt der Pater Superior. Er sei nicht grundsätzlich gegen diese Form der Glaubensbezeugung, „die nicht vom Kopf, sondern vielmehr vom Gefühl bestimmt wird“. Sein Verständnis hat aber Grenzen: „Der Glaube darf nicht in Aberglaube und Magie abgleiten.“ Und genau hier hat Pater Inocencio seine Bedenken. Immer mehr Gläubige belassen es nicht beim hingebungsvollen Kuß, sondern berühren Statue und Gewand mit allerlei mitgebrachten Gegenständen, in der Hoffnung, die Wunderwirkung mit nach Hause nehmen zu können.

„Anfänglich versuchte ich dagegen anzupredigen“, sagt Pater Inocencio. Vergebens. „Mit diesen Leuten kann man nicht langsam und kontinuierlich theologische Arbeit betreiben. Die kommen einmal alle paar Freitage in die Messe, wissen ganz genau, was sie wollen, und fertig“, hat er resigniert. Rainer Wandler, Madrid