Marienborner Elegie

■ An der Zonengrenze öffnet heute ein deutsch-deutsches Freilichtmuseum seinen Schlagbaum: Ein Szenario für alte Ängste, neue Konflikte und kuriose Geschichten aus 35 Jahren gemauerter Geschichte. Grenzerfahrungen von Ch

Marienborner Elegie

Alles schon vergessen? Die Anzeichen nervöser Unruhe bei der Annäherung an den Autobahnkontrollpunkt Marienborn vom Westen her, das leise Kribbeln im Magen selbst der routiniertesten Transitbenutzer. Bis Mitte der siebziger Jahre der obligatorische besorgte Rundblick auf Ablagen und Wagenboden. Keine rumliegenden Flugblätter, keine unerwünschten Zeitschriften?

Die Kontrolle von Kofferraum und Wageninnerem wurde nach dem Grundlagenvertrag eingestellt, aber sonst ging bis November 1989 an der Staatsgrenze bei Helmstedt alles seinen immer gleichen sozialistischen Gang: Vorcheck, anschließend Abgabe des Passes, der, in ein Plastikmäntelchen gehüllt, auf dem verglasten Fließband zur Kontrollbaracke tuckerte. Warten, etappenweises Vorrücken bis zum weißen Strich, dann die letzten Meter zur Identitätskontrolle: „Machen Sie bitte mal das linke Ohr frei!“ „Wo ist denn Ihr Vollbart geblieben, junger Mann?“ Ein tiefer Blick ins Wageninnere. „Gute Reise!“ Das war's – oder auch nicht.

„Fahren Sie mal rechts ran!“ Danach, entweder kalt-ironisch: „Ich gehe doch richtig in der Annahme, daß Sie lesen können?“ Oder brachial: „Könnse nich lesen?“ Jetzt hieß es, sich in Demut zu üben, denn auf die Überschreitung der stufenweisen Geschwindigkeitsbegrenzung vor dem Kontrollpunkt wurde mit pädagogischen Lektionen geantwortet. Für aus der BRD zurückkehrende DDR-Bürger hieß es übrigens „Können wir lesen?“ Schließlich gehörten Gesetzeshüter und -verletzer der gleichen sozialistischen Menschengemeinschaft an. Also: Selbstverständlich konnten wir die Schilder lesen, aber leider, leider haben wir es verabsäumt, uns danach zu richten. 30 bis 150 Mark Unterwerfungsgebühr.

Manchmal folgte auch stundenlanges Warten auf die Rückgabe des Passes. Oder die besonders unangenehme Grenzerfahrung: „Fahren Sie bitte in die Garage, es gibt Hinweise auf einen Mißbrauch der Transitwege!“ Da blieb nur stoische Geduld – wenn man nicht gar unter Aufsicht der Kontrolleure zur Demontage des eigenen Autos herangezogen wurde. Und es blieb die Hoffnung auf die Transitgaststätte „Magdeburger Börde“ mit ihrer sauersweeten Soljanka, ihrem Rot- und Weißkohlbuffet, ihrem Schnitzel plus Sättigungbeilage, serviert an Aluminiumbesteck.

Wäre es nach den Einwohnern rund um Marienborn gegangen, kein Steinchen der „Güst“ (Grenzübergangsstelle) hätte die Wende überstanden. Aber wie in so vielen Dingen entschied nicht der lokale, sondern der zentrale Wille, verkörpert durch die Landesregierung Sachsen-Anhalt und das Landesamt für Denkmalspflege, unterstützt von der Initiative „Grenzenlos“, in der idealistisch gesinnte Wessis „wider das Vergessen“ angingen. Heute also, 35 Jahre nach dem Bau der Mauer, eröffnet in dem, was von der Güst Marienborn übriggeblieben ist, ein Open- air-Museum seine Pforten: die „Gedenkstätte Deutsche Teilung“ an der Autobahn Berlin– Hannover.

Erste Enttäuschung für die Nostalgiker: Die Übergangsstelle aus der DDR Richtung Westen ist vom Erdboden verschwunden. Zweite Enttäuschung: Das verglaste Paß-Transportband wurde abmontiert. Dann aber eine Reihe freudiger Überraschungen. Es stehen die berüchtigte „Garage“, dann die Sargkontrollstelle, wo überprüft wurde, ob Leichen wirklich Leichen waren, ein paar Kontrollbaracken und vor allem das Stabsgebäude, wo die Kommandos des Zolls, der Paßkontrolleinheiten (PKE) und der Grenztruppen ihren Dienst taten. In diesem Gebäude überprüften PKE-Offiziere, allesamt aus der Stasi- Hauptabteilung VI, die per Video übertragenen Pässe. Hier versuchte der diensthabende PKE-Oberst händeringend, in Zweifelsfällen eine Entscheidung der Zentrale einzuholen – sei's beim Bezirk in Magdeburg, sei's in der Berliner Normannenstraße. War Frau Kelly und Herrn Bastian nach ihrem provokatorischen Auftritt beim Staatsratsvorsitzenden der Transitweg nach Berlin zu verweigern oder nicht? Auf der Sperrliste waren die beiden nicht vermerkt, und General Neibert, der Chef, blieb in Berlin unauffindbar. Die Folge für Kelly, Bastian und alle anderen: warten.

Über 250 Paßkontrolleure schoben in vier Schichten ihren Dienst, der durch Normen (100 Pkws pro Stunde im Normalverkehr) geregelt war. Sie überprüften die Dokumente anhand der Sperr- und Fahndungsliste, sie identifizierten die Passagiere und kassierten bis zum Grundlagenvertrag die Visagebühren. Der jetzige Zustand der Kontrollbaracke hat trotz oder wegen einiger Raubzüge der Ureinwohner sein schäbiges Sperrholz- flair bewahrt, ähnlich der Kontrollturm, der, die Güst überragend, das Wahrzeichen der ganzen Grenzanlage abgab. Hier finden sich heute noch die Schaltpulte, von denen her krisenfest dank Notstromaggregat sämtliche Beleuchtungsanlagen, Scheinwerfer und Sperren zu bedienen waren. Hier auch prangt der mit einem roten Deckelchen versehene Schalter, mittels dessen jener Betonblock losgelassen werden konnte, der im äußersten Notfall die linke Autobahnhälfte sperrte. Das vielen Transitreisenden vertraute Ungetüm hatte übrigens bei den Grenzern den Namen „Pfiffi“, weil es, losgelassen, pfeilschnell jedem Grenzdurchbrecher den Weg versperrte.

Was in diesem Marienborner Freilichtmuseum bedient wird, ist der schiere elegische Wessi-Blick. Etwas weniger nostalgisch als Marienborn präsentiert sich die gefallene Mauer zwischen Hötensleben und dem westlichen Schöningen. Dieser Abschnitt ist schlichtes Grenzdenkmal geworden, auch wenn die ansässige Bevölkerung den Abriß der Mauerteile zu erzwingen versucht hat. Kleiner Triumph der Denkmalgegner: Am Wachturm verdeckt eine Baumgruppe den Blick aufs Dorf – mittlerweile meterhohes Ergebnis der Initiative „Bäume statt Mauern“.

Die Hötenslebener wollen vergessen, und so sind es die Alten aus dem westlichen Schöningen, die den Besucher mit den obligaten Maueranekdoten versorgen. Zum Beispiel mit der vom weihnachtlichen Sängerwettstreit zwischen Ost und West. Die Schöninger intonierten an der Grenze Weihnachtsgesänge, die Ost-Grenzer antworteten mit Kampfliedern. In diesem Fall siegten die Ossis – sie hatten die besseren Lautsprecher.