"Jetzt stehe ich auf wackligem Boden"

■ Geld war ihr nie wichtig. Aber jetzt verändern Sparpolitik und Preiserhöhungen ihr Lebensgefühl: Zum ersten Mal hat die Berliner Schauspielerin Anja Michaelis Angst, nicht mehr zurechtzukommen

Irgendwie funktioniert es einfach nicht. Jedenfalls nicht bei ihr. Fünf Tage hat sie brav jede ausgegebene Mark in die Zahlenkolonne gereiht, dann landete das Haushaltsbuch in der Ecke. Auch der zweite Versuch in Sachen Ausgabendisziplin will nicht recht klappen: Nur 200 Mark pro Woche vom Konto abheben – frommer Vorsatz, längst gebrochen.

Sparen war noch nie ihr Ding. Geld war ihr nie wichtig, es war einfach da, nicht viel – aber immer genug, um das Leben zu führen, das sie sich ausgesucht hatte: unabhängig, offen für berufliche und private Experimente, ohne soziale Sicherheitsgurte, ohne Couchgarnitur und 24teiliges Porzellangeschirr. Bis vor kurzem konnte Anja Michaelis sich nicht vorstellen, „daß Geld einmal ein Thema werden könnte in meinem Leben“.

Jetzt lauert das Thema im Kopf und auf jedem Kontoauszug. Mit rund 8.000 Mark steht die 32jährige Schauspielerin bei den Banken in der Kreide, die Schulden bei den Eltern nicht eingerechnet. Wenn hinter dem Minuszeichen auf dem Dispokredit nur noch eine 3.000 stünde, käme sie sich „schon richtig reich“ vor. Schon seit einiger Zeit beschleicht sie das Gefühl, „auf Pump zu leben, und bald fliegt alles auf. Der Boden unter mir ist wacklig geworden.“

Dabei scheint der Boden recht stabil. Abgeschliffene Holzdielen in einer dieser verschwenderisch geräumigen Altbauwohnungen in Berlin, 110 Quadratmeter mit Grünblick in begehrtester Lage in Prenzlauer Berg, sparsam möblierte Zimmer, ein wenig improvisiert, aber mit eigener Note. In einem der drei Räume schlummern, rotwangig und winzig, die beiden kleinen Erdbeben, die das Fundament unter Anja Michaelis ins Wackeln bringen: Nikita und Maxim, dreieinhalb und eineinhalb Jahre alt.

Seit einem Jahr ist Anja Michaelis mit den Kindern allein, der Vater, freischaffender Künstler wie sie, ist ausgezogen – nicht ohne einen Batzen gemeinsamer Schulden zurückzulassen. Seitdem dreht sich der Teufelskreis in immer engeren Spiralen: Anja Michaelis ist arbeitslos, langzeitarbeitslos in der Behördensprache. Wenn sie sich eine Kinderfrau leisten könnte, könnte sie sich auf Schauspielengagements einlassen, wo abends geprobt und gespielt wird. Aber das Geld für diese Kinderfrau hat sie nicht, und weil sie es nicht hat, hat sie keine bezahlte Arbeit und folglich kein Geld.

Vor der Geburt der Kinder war Anja Michaelis als Schauspielerin nicht schlecht im Geschäft, aber auch nicht bekannt genug, um jetzt daran anknüpfen zu können. Sie müßte sich wieder ins Gespräch bringen, sich zeigen auf Premieren und Partys, Kontakte knüpfen. Aber wie soll das gehen? Früher war sie ein Nachtmensch, seit gut einem Jahr sitzt sie fast jeden Abend zu Hause. „Einmal ausgehen kostet mich mindestens 50 Mark, 30 Mark für den Babysitter, 12 Mark für die Kinokarte und dann vielleicht noch ein Glas Wein. Wie soll ich das bezahlen?“

Vom Arbeitslosengeld ist Anja Michaelis jetzt in die Arbeitslosenhilfe gerutscht. 1.000 Mark zahlt das Arbeitsamt jeden Monat, „das reicht gerade für Miete und Strom“. 214 Mark pro Kind streckt die Unterhaltskasse des Jugendamts für den zahlungsunwilligen Erzeuger vor, dazu 400 Mark Kindergeld für die beiden Söhne plus 600 Mark Erziehungsgeld für den kleinen Maxim. 2.428 Mark im Monat für einen dreiköpfigen Haushalt, eigentlich eine ganz wohlklingende Summe, ihre Freundinnen haben weniger, Anja Michaelis will gar nicht klagen, „damit komme ich klar“. Bisher hatte sie auch nicht das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen: „In Berlin kannst du ein Leben führen ohne viel Geld und ohne das Gefühl, Loserin zu sein.“

Und dennoch ist schleichend etwas Neues passiert. In die Sorglosigkeit, die ihr bisher wie ein Gen anhaftete, mischt sich eine zweite Stimme: „Zum ersten Mal in meinem Leben“, sagt Anja Michaelis „habe ich Angst.“ Im Oktober läuft das Erziehungsgeld aus, 600 Mark weniger im Monat. Und schon jetzt ist das Monatsbudget restlos ausgeknautscht, da bleibt kein Pfennig, um den zinsenauftürmenden Dispokredit abzuzahlen.

Ein Super-GAU, wenn passiert, was neulich geschah. Da hatte Anja Michaelis „die Woche der kaputten Elektrogeräte“: Waschmaschine, Staubsauger, Telefon, Fernbedienung – alles hauchte innerhalb von einer Woche den Geist aus. Kollaps total. Für außergewöhnliche Ausgaben wie das Dreirad für Nikita oder den Skianzug für Maxim springen zum Glück die spendierfreudigen Omas ein. Ohne die eigenen Eltern im Hintergrund, sagt Anja Michaelis, „wäre mein Angstpotential ungleich höher“.

Anja Michaelis ist nicht der Typ, der auf den Pfennig guckt, der die täglichen Preiserhöhungen, die vielen kleinen Nadelstiche ins Portemonnaie, akribisch registriert. Auch in welchem Umfang die staatlichen Sparmaßnahmen künftig ihr Monatsbudget schröpfen, hat sie noch nie durchkalkuliert. Sie spürt die Sparpolitik auf andere Weise: Die Leichtigkeit, die sie bisher hatte, ist merkwürdig gedämpft, die Zukunftsperspektive eingeengter denn je.

Die Kürzungen im Sozialbereich ziehen ihr ein Stück Sicherheit unter den Füßen weg. Nach der Trennung vom Vater ihrer Kinder war Anja Michaelis mit der Verantwortung für zwei Kleinkinder und den Haushalt psychisch und physisch restlos überfordert. Eine Familienpflegerin vom Jugendamt sprang unterstützend ein. Ein Segen! „Wenn die nicht gewesen wäre, ich hätte nicht garantieren können, daß es mir nicht gegangen wäre wie anderen Müttern, die ihre Kinder irgendwann auf die heiße Herdplatte setzen.“ Ende Mai hat sich die Familienpflegerin verabschiedet: Kein Geld mehr. Für Anja Michaelis ein Indiz, „daß die kleinen, lebenswichtigen sozialen Netzwerke zerbröckeln“.

Als Schauspielerin trifft die Sparpolitik sie in einem zweiten Bereich: Im Kultursektor wird drastisch gekürzt, das wird das Ende vieler freier Theatergruppen sein, in denen Anja Michaelis beruflich zu Hause ist. Zum ersten Mal überlegt sie jetzt, sich von ihrem Traumberuf Schauspielerin zu verabschieden, „obwohl ich weiß, daß ich einen Knall kriege, wenn ich nicht mehr spielen kann“. Doch die Umschulung als Heiltherapeutin, die sie sich vorstellen könnte, müßte sie selbst bezahlen. 18.000 Mark. Wer gibt einer alleinerziehenden Frau mit Schuldenberg schon einen solchen Kredit? Außerdem: Was nützt die teure Ausbildung, wenn nicht sicher ist, daß die Krankenkassen diese Heilmethoden dann noch bezahlen?

Den Gedanken an die Zukunft schiebt Anja Michaelis am liebsten weg, das Leben ist so schon kompliziert genug: „In meinem Kopf gibt es eine Instanz, die sagt: Es wird schon klappen. Aber neuerdings gibt es noch eine zweite Instanz, die heißt ,Panik‘.“ Dann beruhigt sie sich selbst: „Wenn die Zeiten finsterer werden, dann mußt du dich eben drauf einstellen.“

Anja Michaelis stellt sich darauf ein. Bisher war sie eine „hobbymäßige Lebensmitteleinkäuferin“. Jetzt findet sie sich nicht nur im Bioladen, sondern auch bei Aldi wieder, und wenn sie überhaupt „Klamotten“ kauft, dann in den stadtbekannten Geschäften mit den Restbeständen. Aber davon geht die Welt nicht unter. Und obwohl Anja Michaelis eigentlich keinen Pfennig übrighat, wird sie im Sommer Urlaub machen – mit den Kindern an die Ostsee, das ist Tradition, das läßt sie sich nicht nehmen.

Dann vermietet sie halt ihre Berliner Wohnung in dieser Zeit. Okay. Letztes Jahr war das nicht das reine Vergnügen. Da hinterließen die männlichen Quartiergäste von der Mitwohnzentrale in ihrer Wohnung ein Geschwader Lebensmittelmotten und im prallgefüllten Mülleimer einen Haufen glitschiger Kondome. Was soll's, dann vermietet sie eben dieses Jahr nur an nichtrauchende Frauen. Irgendein Weg wird sich schon finden. Vera Gaserow